Die Landkarte der Finsternis
Göttern alles abgesegnet; denselben Göttern, die sich in Afrika nie blicken lassen, die ihre Ohren auf Dauerdurchzug stellen, wenn die Armen zu ihnen beten, und beharrlich den Blick abwenden, um ihre Mitschuld an Kriegen zu leugnen, die ganze Regionen entvölkern ⦠Bei Modenschauen aber applaudieren diese Götter mit Händen und FüÃen. Mancher Star erhält für seine bloÃe Anwesenheit in einem hippen Nachtclub ein Honorar, das ausreicht, um tausend afrikanische Stämme zu ernähren; manche Diva münzt ihr Lächeln in Werbespots, die flüchtiger sind als jeder Geistesblitz, in Millionen um â der Anstand, der hat ausgedient, wo die Mächtigen der Welt nichts von ihm wissen wollen; Moral ist nur noch etwas für Nonnen und naive Idealisten ⦠Ich reiÃe mich zusammen. Ich glaube, ich spinne ⦠Kurt, Kurt, was ist bloà mit dir los? Was soll dieser Wutausbruch? Und seit wann schwingst du dich zum Richter auf â¦? Ich schalte schnell den Fernseher aus ⦠Nicht mehr lange, und ich werde, wenn ich nur konzentriert genug lausche, in der nächtlichen Stille Frankfurts leise den Tag jammern hören, der einmal mehr den Feuertod in seinen eigenen Flammen sterben muss ⦠Nein, sage ich mir, nein und nein, du musst dich wieder fangen, und zwar sofort!
Um Mitternacht ist mein Entschluss gefasst: Ich muss Frankfurt für eine Weile den Rücken kehren. Meine alten Studienfreunde sind mir eingefallen, die ich aus den Augen verloren habe. Und meine Mutter, auf deren Grab ich seit ihrer Beerdigung keine Blumen mehr gestellt habe. Mir wird klar, in welchem Ausmaà die Zeit viel zu schnell vergeht und wie undankbar und egoistisch ich doch war. Meine Mutter, meine liebe, sanfte Mutter, die im Alter von vierundvierzig Jahren an ihren hilflosen Gebeten und ihrer elenden Einsamkeit zugrunde gegangen ist. Ich sehe sie vor mir, in ihrem hellen Kleid, wie sie halb verrückt durch die Station mit den Krebskranken irrt. Ihr vor der Zeit ergrautes Haar absorbierte alles Licht, das die Balkontür hinter ihr in den Schlafraum einlieÃ.
Um fünf Uhr morgens steige ich ins Auto und brause nach Essen.
Ich habe den kompletten Friedhof abgesucht, ohne das Grab meiner Mutter zu finden. Ein Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung hat es dann für mich ausfindig gemacht. Ich habe ein Blumengebinde auf der Granitplatte niedergelegt und mich in stille Andacht vertieft. Ich wollte ja mein Gedächtnis auffrischen, ferne Erinnerungen aufleben lassen â doch seltsam, kein einziges Bild tauchte vor meinem inneren Auge auf. Wie war das möglich â¦? Ich bin nicht sonderlich lange auf dem Friedhof geblieben. Was hätte das noch gebracht? Ich habe in einem Restaurant mit Seeblick zu Mittag gegessen und dann Thomas Knittel angerufen, einen Freund aus alten Zeiten. Als er hört, wer am Apparat ist, weià er sich kaum zu halten. Seine Stimme überschlägt sich vor Lachen. Er nennt mir seine neue Adresse, in München, und bittet mich, ihn an der Universität abzuholen, wo er Mathematik lehrt. Wegen eines Unfalls auf der Autobahn komme ich eine Stunde später an. Thomas wartet schon vor dem Portal auf mich, überglücklich, mich wiederzusehen. Seine herzliche Umarmung tut mir gut. Er lotst mich zu sich nach Hause, in ein kleines Häuschen am Stadtrand. Thomasâ Frau ist ein klein wenig mollig, mit einem Haarschopf wie herbstlicher Rotahorn, und eine richtiggehende Schönheit. Sie heiÃt Brigitte und stammt aus StraÃburg, eine Französin. Sie begrüÃt mich so warmherzig, dass ich mich gleich wohl fühle. Sie ist begeistert, einen Freund von Thomas kennenzulernen und ihm ihre beiden Knirpse vorzustellen, schüchterne Zwillinge, die an Fremde offenbar nicht gewöhnt sind. Wir essen bei ihnen zu Hause zu Abend, Thomas will mir unbedingt die Kochkünste seiner Frau vorführen. Dann plaudern wir von alten Zeiten. Nach ein paar Stunden haben wir alle Themen erschöpft und dösen den Rest des Abends weinselig vor uns hin. Da Thomas am nächsten Morgen in die Uni muss, verabschiede ich mich vor Mitternacht. Er will unbedingt, dass ich im Gästezimmer übernachte, aber ich habe sicherheitshalber ein Hotelzimmer reserviert. Und Brigitte ist ohnehin schon im Bett.
Im Hotel nehme ich heute Nacht keine Schlaftabletten. Das Treffen mit Thomas hat mich wieder ins Lot gebracht. Ich bin im Einklang mit mir selbst und sage mir,
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