Die Landkarte der Finsternis
Vorhänge auf, öffne alle Fenster weit und lasse den hellen Tag in mein Haus. Noch nie kam mir die Sonne so über alle MaÃen strahlend vor. Es ist traumhaftes Wetter, ideal, um sich auf sich selbst zu besinnen und Träumen nachzujagen, von denen man lange nichts hat wissen wollen. Ich gehe nüchtern, mit festem Schritt, ins Bad. Keine Leiche in der Badewanne! Auch kein Skelett im Wandschrank. Es gibt nur mich, Kurt Krausmann ⦠Ich ziehe mich aus, springe unter die heiÃe Dusche; meine Haut fühlt sich samtweich an. Nach Rasur und Aftershave schlüpfe ich in mein schönstes Hemd, meine beste Hose, mein edelstes Sakko und mache mich daran aufzuholen, was mir in Afrika, hinter den Gitterstäben meines Kerkerfensters mit Aussicht auf den Sonnenuntergang im Tal, versagt geblieben war. Ich esse in Ernoâs Bistro zu Abend, und nirgends schwebt auch nur der Hauch Âeines Phantoms. Frisch gestärkt kehre ich spätnachts heim, hole mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank und setze mich an den Computer. Diesmal klickt der Cursor Elenas Mail direkt an ⦠Keine Textnachricht, nur ein Dateianhang, den ich, ohne zu zögern, öffne. Ich fürchte mich nicht mehr vor Pandoras Büchse. Rund zwanzig Fotos erscheinen nebeneinander auf dem Schirm. Es sind die Bilder, die Elena im Camp von mir gemacht hat ⦠Ich stehe zwischen den Rohbauten von Hodna-City, sitze auf der Stufe vor ihrem Pavillon, lächele aus der Tiefe der Kantine in die Kamera, liege auf einem zerwühlten Bett, lege Bruno meinen Arm um die Schultern, horche auf der Krankenstation ein Kind ab, überlasse mich den Frisierkünsten von Lotta, die mir inmitten eines Schwarms ausgelassener Kinder die Haare schneidet ⦠Eine Welle des Glücks durchflutet mich.
Ich antworte kurz und einfallslos, so tief berührt, dass mir die Worte fehlen: Vielen Dank für die schönen Erinnerungsfotos, Elena. Wie geht es denn so?
Und schicke die Mail ab.
Als ich gerade aufstehen und mich umziehen will, piepst mein PC. Elena hat geantwortet. Als hätte sie nur auf meine Mail gewartet. Meine Uhr zeigt 23 Uhr 45. Mindestens eine Stunde Zeitverschiebung zwischen Frankfurt und dem Sudan. Ich kann es kaum fassen, setze mich wieder, klicke die Nachricht an.
Es wäre gelogen, wenn ich dir sagte, dass du mir fehlst und ich jede Sekunde an dich denken muss. Du bist nichts für mich. Du hast nie existiert ⦠Mein weibliches Schamgefühl verbietet mir, anderes zu sagen.
Am Anfang verstehe ich kein Wort. Dann trifft sie mich mit voller Wucht, diese Liebeserklärung, und schlagartig wird mir klar, dass mir die falsche Frau gefehlt hat, dass ich weniger Jessica als Elena nachgetrauert habe und völlig betriebsblind war. Ich hatte mein Leben auf Leerlauf geschaltet und ganz vergessen, dass es noch andere Gänge gab. In meiner seelischen Eiszeit hatte sich der Wildwuchs meiner Sorgen zu einem gewaltigen Scheiterhaufen getürmt, der in stoischer Ergebenheit darauf wartete, dass eine gnädige Sonne sich dazu herablieÃe, ihn zu entflammen. Doch am Abend kein Flammenmeer ⦠Nur meine Ãngste krochen dichter zusammen, um die Nacht durchzustehen, und bleich wie der Mond zog sich die Sonne zurück â ein trügerischer Lichtblick. Wenn ich seit meiner Rückkehr aus Afrika unglücklich war, dann wegen meiner Unfähigkeit, die Dinge zu sehen, wie sie waren. Ich habe mich kasteit, mir Vorwürfe gemacht, mich schuldig gefühlt an einem Verbrechen, das ich nicht begangen hatte, dessen Opfer und Beweisstück ich war. Ich machte dem Falschen den Prozess! Ich lief in einem fiktiven Labyrinth im Kreis, suchte nach einem Ausgang, wo es keinen gab. Denn einen Ausweg gibt es nur für den, der weiÃ, wohin er geht. Ich musste mich abfinden mit dem, was ich nicht bezwingen konnte, und meinen Weg woanders suchen. Aber es hat mir an Geistesgegenwart gefehlt. Wie konnte ich nur so verblendet sein â¦? Wieder und wieder lese ich Elenas Zeilen, und jedes Mal wird etwas mehr von dem tückischen Gift, das mein Unterbewusstsein infiltriert hat, neutralisiert. Meine düsteren Gedanken hellen sich einer nach dem anderen auf und weichen funkelnden Geistesblitzen; das geringste Detail tritt mit ungeahnter Schärfe hervor. Warum bist du traurig?, hatte der Marabut-Krieger mich gefragt. Du musst nicht traurig sein. Nur die Toten sind traurig, weil sie nicht mehr aufstehen können. Und ich lebe. Ich atme,
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