Die Landkarte der Finsternis
wirklich alles , ein prächtiges Haus in einer fantastischen Stadt, jede Menge Freunde, ein üppiges Bankkonto, ein luxuriöses Büro in einem renommierten Unternehmen und einen Ehemann, der nicht geduldet hätte, dass ihr auch nur ein Haar gekrümmt wird, was tut diese Jessica, was tut sie uns an? Sie macht freiwillig Schluss mit ihrem Leben! Und warum? Wegen einer Beförderung â¦Â«
Claudia hebt den Bilderrahmen auf, stellt ihn an seinen Platz zurück, fährt mit dem Finger über den sternförmigen Sprung im Glas; dann kommt sie um den Sessel herum, der zwischen uns steht, greift nach meiner Hand und presst sie an ihre Brust. Ich hasse es, bemitleidet zu werden. Was sie als Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs interpretiert, ist lediglich der Ausdruck einer legitimen, gerechten und luziden Kritik. Weit davon entfernt, eine Annäherung zwischen uns zu bewirken, schiebt sich dieses Missverständnis dick und fett wie ein Bollwerk zwischen uns. Ich habe das Gefühl, ich bin im falschen Film gelandet, im Dialog zwischen einer Blinden und einem Taubstummen.
Ich ziehe meine Hand zurück, sie ergreift sie erneut und hält sie fest. Ihr Atem flattert mir ins Gesicht. Ich habe sie im Verdacht, mich gleich küssen zu wollen. In ihren Augen steht ein Fragezeichen, ihr Blick kurvt um meine Lippen, während ihr halbgeöffneter Mund sich in einer unmerklichen Bewegung des Kinns darbietet.
Ich weiche zurück.
Sie senkt ihre Lider mit den langen, geschwungenen Wimpern. Ihr Fingerdruck verrät mir, dass meine Reaktion sie enttäuscht.
»So was passiert, Kurt. Wir leben in einer verrückten Zeit. Wir sind überfordert und stürzen unbedacht drauflos, um auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Da erwischt manch einer das falsche Gleis.«
Schon wieder treibt mich ihr Blick in die Enge, und ihr Mund, knallrot wie eine frische Wunde, streift flüchtig meine Lippen. Jetzt verbrennt mir ihr Atem förmlich das Gesicht.
»Nur wenige wissen ihre Ãngste zu kontrollieren«, fährt sie fort, »und noch weniger wissen, was sie wirklich wollen im Leben.«
Ich schiebe sie von mir. Nicht brutal, aber unmissverständlich, damit sie meine Hand loslässt.
»Du bist eine tolle Frau, Claudia ⦠Verzeih mir, wenn ich hin und wieder ausraste. Ich habe ja sonst niemanden, an dem ich meinen Frust auslassen kann, aber ich darf deine Geduld nicht über Gebühr strapazieren ⦠Ich muss jetzt allein sein. Ich habe noch etwas mit mir selbst zu klären. Von Kurt zu Kurt.«
»Bist du ganz sicher, dass du das so willst?«
»Ich bitte dich â¦Â«
Sie nickt, wirkt ein wenig verloren, will noch etwas sagen, lässt es dann bleiben. Sie mustert mich mit tieftraurigem Blick, nimmt ihre Handtasche vom Tisch und verschwindet. Die Haustür lässt sie offen stehen.
Ich fühle mich gleich viel besser. Ich habe Klartext geredet. Das war zwar die reinste Rosskur, aber sie fängt schon an zu wirken. Fortan ist der Schuldige identifiziert, und es ist Jessica. Wie kann man nur wegen einer aufgeschobenen Beförderung in den Freitod gehen? Wie kann ein Mensch glauben, er sei es nicht wert, eine Niederlage zu überleben, wo Sinn und Zweck der Niederlage doch darin bestehen, uns für den weiteren Weg zu stärken? Wie kann man seinen Ehrgeiz über sein Leben stellen und auch nur eine Sekunde lang denken, es könne etwas geben, das stärker ist als die Liebe, wichtiger als die eigene Existenz? All die Fangfragen, die uns geflissentlich von der einzigen Antwort ablenken, die für uns zählt: von uns selbst. Seit Urzeiten läuft der Mensch seinem Schatten hinterher, weil er allem, was ihm kein Leid bringt, misstraut, und sucht woanders nach dem, was er doch in Reichweite hat. Er ist überzeugt, dass es keine Erlösung ohne Martyrium gibt, keine Medaille ohne Kehrseite, in diesem Fall die Selbstverleugnung, obwohl zur Bestimmung des Menschen doch ganz wesentlich die Fähigkeit gehört, immer wieder auf die Beine zu kommen ⦠Ach, der Mensch! Dieses Genie, das sich so hartnäckig gegen sein Glück sträubt und so fasziniert ums Schafott seiner Eitelkeiten tanzt. Ständig hin- und hergerissen zwischen dem, was er zu sein glaubt, und dem, was er gern wäre. Und der darüber ganz vergisst, dass die gesündeste Lebensweise darin besteht, man selbst zu bleiben. Ganz einfach.
Nachdem Claudia gegangen ist, reiÃe ich alle
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