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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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eintätowiert. Ich drehe mich zur Seite und halte ihm meine Arme hin, damit er mich losbindet. Misstrauisch weicht er zurück.
    Â»Wie soll ich denn essen, wenn mir die Hände auf dem Rücken gefesselt sind?«, frage ich ihn.
    Â»Brauchen der Herr vielleicht einen Servierwagen?«, wettert der Koloss, der schlagartig aufgetaucht ist, als wäre er der Felswand entstiegen. »Einen verchromten Servierwagen, mit weißem Stickdeckchen, Silberbesteck und Kristallgläsern?«
    Er verscheucht den Jungen, der sich träge trollt, dann schiebt er mit dem Fuß den Topf in meine Richtung.
    Â»Wenn du Afrika wirklich spüren willst, da, wo es noch echt und authentisch ist, dann musst du nur an diesem Essen riechen. Klar, es sieht aus wie frisch ausgekotzt, aber ist das nicht schon der Vorgeschmack der großen initiatorischen Reise?«
    Â»Wie soll man denn essen, wenn man angekettet ist?«
    Â»Wie die Tiere: mit der Zunge den Napf ausschlecken.«
    Er nähert sich Hans, der immer noch auf der Seite liegt.
    Â»Er hat einen Säbelhieb abbekommen«, erkläre ich.
    Der Koloss beugt sich über Hans und schiebt sein Hemd hoch, um zu prüfen, in welchem Zustand die Wunde ist.
    Â»Ich hab schon Schlimmeres gesehen«, brummt er. »Er wird darüber hinwegkommen.«
    Â»Ich bin Arzt. Ich muss ihn untersuchen.«
    Â»Ich sag dir doch, es ist halb so wild.«
    Â»Und ich sage Ihnen, seine Wunde wird sich infizieren, wenn …«
    Seine Hand packt mich an der Gurgel, erstickt den Rest meines Protests.
    Â»In meiner Gegenwart wird man nicht laut!«, herrscht er mich mit aufgerissenen weißen Augen an. »Ich hasse das.«
    Seine Finger drücken auf meine Halsschlagader; von dort strahlen die pochenden Vibrationen bis in meine Schläfen aus.
    Â»Du bist in Afrika … in meiner Heimat, und hier habe ich das Sagen. Wenn man mit Joma spricht, dann gibt man schön acht, dass kein Wort lauter ist als das andere … Und hör auf, mich so eigenartig anzusehen, sonst stech ich dir die Augen mit dem Zahnstocher aus.«
    Mein Gehirn sendet erste Anzeichen von Luftmangel.
    Â»Hast du mich verstanden?«
    Sein Geifer spritzt mir ins Gesicht.
    Er stößt mich verächtlich zurück, wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und erklärt unumwunden:
    Â»Ich kann dich nicht leiden.«
    Er schickt sich an, die Höhle zu verlassen, macht abrupt auf dem Absatz kehrt und kommt wutschnaubend zurück. Als hätte ein uralter, seit Jahrhunderten unterdrückter Groll ihn eingeholt, der weitaus stärker und mächtiger ist als er selbst. In seinem massigen, kohlschwarzen Gesicht beben die Nasenflügel im Rhythmus der Krämpfe, die durch seine Wangen zucken.
    Â»Du fragst dich bestimmt, was für ein tobsüchtiger Paranoiker ich wohl bin: kein richtiger Primat, der sich domestizieren lässt, kein richtiger Mensch, der sich erweichen lässt.«
    Â»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«
    Seine Hand knallt mit solcher Wucht auf meine Wange, dass mein Schädel gegen den Felsen prallt. In einem letzten rebellischen Aufbäumen meines Stolzes richte ich mich auf, um ihm Kontra zu geben. Mein Atem vermischt sich mit seinem. Er hebt den Arm. Mein Blick verhöhnt ihn, mein Hals ist aufs äußerste gespannt. Er schafft es nicht, mich zum Einknicken zu bewegen, verzichtet darauf, mich nochmals zu schlagen, und entweicht aus der Höhle wie ein Dämon aus dem Körper eines Besessenen.
    Am zweiten Tag bringt uns der Junge mit dem Brillengestell auf der Nase das Essen. Schon wieder diese verdammte ranzige, klebrige Melasse, die auf dem Gaumen einen verdorbenen Geschmack zurücklässt und einem noch Stunden später aufstößt. Am Anfang dachte ich, ich würde nicht einen Bissen herunterbekommen, ohne ihn wieder auszuspucken, aber der Hunger übertüncht die grässlichste Nahrung so wie Gewürze das fadeste Essen … Der Junge zuckt zusammen, als ich mit dem Fuß den Topf zurückstoße. Doch da er den Sinn meiner Geste nicht erfasst, misst er ihr keine Bedeutung bei; er wundert sich nur, wie ich auf eine Mahlzeit verzichten kann. Er setzt sich auf einen Erdklumpen, den Säbel zwischen die Knie geklemmt, und mustert mich neugierig. Seit dem Überfall auf unser Schiff irritiert mich dieser Junge. Sein Blick ist rätselhaft; unmöglich zu wissen, was dahinter vor sich geht. Seine Augen sind klein

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