Die Landkarte der Finsternis
protestiere ich.
»Und warum nicht?«
»Mein Freund ist verletzt. Dieser Ort ist voller Krankheitskeime, das wird seinen Zustand noch verschlimmern. Können Sie uns nicht woandershin bringen?«
»Doch ⦠Ich kann euch an einen Baum binden oder in den Sand stecken, aber ihr findet keinen besseren Logenplatz als diesen, um Afrika aus nächster Nähe zu erleben. Das hat euch doch hierher geführt, oder nicht? Die Exotik, die Wildnis und die Sehnsucht nach dem verlorenen Weltreich â¦Â«
»Wir sind keine Touristen â¦Â«
»Logisch. In Afrika gibt es keine Touristen; hier gibt es nur Gaffer.«
Er befiehlt seinen Männern, ihm nach drauÃen zu folgen. Sofort nehmen die Fliegen den Ort wieder in Besitz; ihr Surren unterstreicht noch die widerlichen Ausdünstungen der Höhle. Mir ist speiübel, aber mein leerer Magen gibt nichts mehr her.
Hans streckt sich auf dem kotverdreckten Boden aus und versucht zu schlafen. Seine Resignation macht mir ebenso zu schaffen wie sein Auge.
»Du hast Blut am Rücken«, sage ich.
»Ich habe einen Hieb mit dem Säbel abbekommen, als ich auf die Brücke wollte. Ich wollte Tao einen Rettungsring zuwerfen.«
Seine Miene verfinstert sich, als er den Vorfall auf der Yacht erwähnt. Er spuckt aus und fügt hinzu:
»Wenn ich nur an Tao denke! Du ahnst gar nicht, was für Vorwürfe ich mir mache.«
»Es bringt nichts, sich schuldig zu fühlen ⦠Lass uns versuchen, optimistisch zu bleiben. Das Meer ist nicht weit. Wir müssen herausfinden, wo wir sind. Ich habe nicht die Absicht, hier zu vermodern.«
»Pssst!«, zischt der Junge mit dem leeren Brillengestell auf der Nase, der am Eingang zur Grotte Wache schiebt.
Die Nacht fällt so jäh nieder wie ein Fallbeil. Ich war eingeschlafen. DrauÃen nicht ein Geräusch; unser jugendlicher Wächter ist verschwunden. Ich spitze die Ohren; auÃer dem Raunen des Meeres, nichts. Und in diesem Moment, in dem kalter Schweià meinen Rücken zu Eis erstarren lässt, wird mir der Ernst unserer Lage bewusst.
»Sind sie weg?«, frage ich Hans.
Er antwortet nicht. Ich stoÃe ihn mit dem Knie an; keine Reaktion. Im ersten Moment halte ich ihn für tot. Ich beuge mich über ihn, lege mein Ohr an seine Rippen; er brummt und rollt sich wieder ein.
Hunger und Durst beiÃen mich, aber ich achte nicht darauf. Eine enorme Anspannung nimmt mir die Luft. Ich bestehe nur noch aus düsteren Gedanken und Schreckensbildern. Ich fühle mich bedroht. Ich will nicht wieder einschlafen; ich will in die Dunkelheit schauen und mir einbilden, das sei die Nacht, eine sternlose, mondlose Nacht, wie ich sie aus dem winterlichen Frankfurt kenne, ich will die Augen weit offen halten und mich mit dem vertraut machen, was ich nicht sehe; vielleicht klammere ich mich zum letzten Mal an etwas, was mich am Leben hält ⦠Hans hat schon aufgegeben. Ich störe ihn, wenn ich rede; er antwortet widerwillig und auch nur, weil er wohlerzogen ist. Ich vermute, er hält Zwiesprache mit Taos Geist. Ich dagegen muss reden, muss irgendetwas sagen, muss Fragen stellen, ohne auf einer Antwort zu bestehen; Hansâ Einsilbigkeit aber entblöÃt meine Flanken und macht mich verwundbar. Das Schweigen ist der grausamste Verbündete der Panik; es verwandelt Zweifel in Verfolgungswahn und Dunkelheit in Klaustrophobie. Was werden sie mit uns machen? Der Tod geht um, in unmittelbarer Nähe; ich könnte ihn mit dem Finger berühren, doch ich habe Angst, ihn herauszufordern. Ich spitze die Ohren, horche auf eine Stimme oder den Schrei eines Tiers, der diese verfluchte Stille durchbricht, die mich auslöscht ⦠vergebens. DrauÃen die Nacht ist wie ein Sarkophag; sie riecht nach Moder und fauligem Fleisch. Ich habe Angst â¦
Am nächsten Morgen bringt ein Jugendlicher uns etwas zu essen: eine Art dicker, klumpiger Suppe. Schon vom Geruch wird mir ganz übel.
»Was ist das?«, frage ich.
»Hierzulande isst man, ohne Fragen zu stellen. Man bekommt nicht alle Tage etwas zu beiÃen.«
Der Junge wirkt abgestumpft, als würde man ihn zwingen, schwerste Dienste zu verrichten. Er ist hoch aufgeschossen, hat hervorstehende Schulterblätter und ein kantiges Gesicht mit kahlgeschorenem Schädel, auf dem nur ein Tuff Kraushaar in Form einer Raute steht. Auf der rechten Schulter hat er ein Mädchengesicht und den Buchstaben »F«
Weitere Kostenlose Bücher