Die Landkarte der Finsternis
Aufpasser und legt einen Finger auf den Mund.
Und wieder geht mir sein glasiger Blick durch Mark und Bein.
Nicht gerade mit Glacéhandschuhen haben sie Hans und mich auf die Feluke geworfen. Wir werden vom Koloss mit den Amuletten und drei seiner Komplizen bewacht. Der Anführer und der Rest der Bande sind an Bord der Yacht geblieben. Während unser neues Gefährt Kurs auf unser Schicksal nimmt, müssen wir mit ansehen, wie unser Boot eine Reihe ungeschickter Manöver vollführt und dann in Richtung auf ein dem unseren entgegengesetztes Ziel entschwindet. Hans hat Tränen in den Augen; ich merke, wie sich eine hilflose Wut in ihm aufstaut. Als die Yacht in der Dunkelheit verschwindet, stützt Hans sein Kinn auf die gefesselten Fäuste und vergräbt sich vor der Welt.
Die Feluke schlingert durch die Fluten, wirft uns von Reling zu Reling. In der Stille der Nacht klingt das Motorengeräusch wie das Röcheln eines Dickhäuters im Todeskampf. Mir ist speiübel, und meine Migräne wird immer schlimmer. Ich muss mich übergeben. Auf meine Knie.
Die Ãberfahrt will kein Ende nehmen, und in der Ferne besprenkeln schon die ersten Blutspritzer der Morgenröte den Horizont. Vom Fahrtwind werden mir Arme und Knie eiskalt. Mein Rücken beginnt wie verrückt zu jucken. Ich kann mich weder kratzen noch mich am wurmstichigen Holz der Barke scheuern, aus dem an manchen Stellen Splitter ragen, scharf wie Dolche. Von Zeit zu Zeit stöÃt mir der Koloss seinen Stiefel gegen das Schienbein, damit ich nicht einschlafe. Und der Junge vor mir mit seiner glaslosen Brille auf der Nase und dem bizarren Lächeln auf der versteinerten Miene lässt mich keine Sekunde lang aus den Augen.
Möwengeschrei ⦠Ich war eingenickt. Die Sonne steht am Himmel; die Feluke schlängelt sich durch die Sägezähne eines Felsenriffs, gleitet einen Korridor mit sumpfigen Windungen entlang, folgt dem Lauf einer Lagune bis zu einem winzigen Kiesstrand. Der Koloss wirft uns an Land. Die anderen ziehen das Boot aus dem Wasser und schleifen es in einen toten Winkel, wo sie es mit einem Tarnnetz abdecken. Wir marschieren sofort weiter. Ein Hohlweg führt uns zu einer kleinen Bucht, die wir umrunden, um dann ins Landesinnere vorzudringen. Nach Âeiner Stunde FuÃmarsch erreichen wir einen von Gestrüpp überwucherten Talkessel, vor dem ein bewaffneter Jugendlicher Wache hält. Ein verkrüppelter, kurzbeiniger Knabe mit pockennarbiger Stirn. Er trägt eine verdreckte Hose und ein zerrissenes Unterhemd. Der Koloss redet ein paar Worte in einer lokalen Sprache mit ihm, zeigt auf einen Hügel und entlässt ihn. Wir laufen kilometerlang denselben Weg zurück. Stellenweise fällt unser Blick auf das Meer. Ich versuche, mir markante Punkte der Gegend einzuprägen, durch die wir kommen, denn ich habe nur eines im Kopf: die erste Gelegenheit, die sich uns bietet, zur Flucht zu nutzen ⦠Der arme Hans! Er humpelt mit hängenden Schultern vorneweg, das Gesicht durch sein geschwollenes Auge entstellt. Geronnenes Blut hat sein Hemd im Rücken verklebt. Er läuft wie ein Schlafwandler, das Kinn zur Brust geneigt.
Endstation ist eine vor Feuchtigkeit schwitzende Höhle, die von Fäkalien und Essensresten verunreinigt ist. Ein stinkendes, düsteres Loch mit einem zerklüfteten Deckengewölbe voller Fledermausnester, dessen hügeliger Boden so massiv von Wachsresten überzogen ist, als hätte man darauf Tausende von Kerzen abbrennen lassen. An den Wänden rosten Eisenringe vor sich hin; an manchen hängen noch die Ãberreste jahrhundertealter Ketten, die vom Zahn der Zeit und vom Meersalz an den Gelenken zerfressen sind. Hier und da schwärzliche Nahrungsreste in zerdellten Konservendosen, Wischlumpen und Unrat. Ein süÃlicher Mief steigt aus den Winkeln auf, der die Luft dicker werden lässt, während Hundertschaften von Fliegen, von unserer Ankunft aufgeschreckt, mit ungestümem Surren auf uns losgehen.
Der Koloss befiehlt seinen Männern, uns anzuketten. Hans, der völlig erschöpft ist, lässt sie gewähren. Er kann sich nicht mehr auf den Beinen halten. Ich versuche, mich gegen den eisernen Griff der fremden Arme zu wehren; da klickt bereits etwas wie Handschellen um meine Gelenke, und man wirft mich zu Boden.
»Das ist jetzt euer Palasthotel«, erklärt uns der Koloss.
»Sie lassen uns doch wohl nicht etwa hier!«,
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