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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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seiner Rückkehr die Verantwortung für den Stützpunkt, dann steigt er in einen der Pick-ups und braust Richtung Südosten davon. Eine seltsame Stille senkt sich über die Gegend. Durch unser Gitterloch sehe ich, wie beide Fahrzeuge mit Vollgas auf das Tal zudüsen. Als sich der Staub in der Ferne gelegt hat, presst mir ein Schraubstock das Herz zusammen, als wär’s eine Zitrone. Bruno in seinem Winkel hat sich nicht gerührt. Er hat die Befehle des Hauptmanns gehört, die von den Wänden widerhallten, die Aufbruchsstimmung draußen im Hof, das Klicken der Gewehre, das Dröhnen der Motoren, ohne irgendein Interesse zu bekunden. Nach der Abfahrt des Hauptmanns bin ich wieder zurück vor die Tür, habe gewartet, dass jemand kommt, der uns erklärt, was eigentlich los ist. Nur Joma, Blackmoon und drei oder vier verstörte Piraten sind jetzt noch am Stützpunkt; alle wirken völlig aufgelöst. Sie sind überfordert mit der Wendung, die die Dinge nehmen, und entsprechend frustriert. Vor lauter Aufregung haben sie uns, wie ich feststelle, seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr zu essen gebracht.
    Ich gehe zu meiner Matratze zurück und rolle mich ein.
    Der Abend dringt so ungeniert bei uns ein wie ein ungebetener Gast, dann der Morgen. Ein regloser Morgen. Sinnlos und leer. Bruno versteckt sich noch immer unter seinem Moskitonetz. Ich nehme es ihm übel, dass er mich meiner Einsamkeit und damit dem drohenden Abdriften in die Depression überlässt. Ohne Gesprächspartner, der mich auffängt, ist das vorgezeichnet. Ein anderes Ventil gibt es nicht, wenn man mental derart abgeschottet ist. Früher oder später versinkt man …
    Und dann dieses Warten, das meinen Lebensraum mehr und mehr auf einen einzigen bohrenden Gedanken reduziert … Das Warten …! Dieses Vakuum, das einen vollkommen ausfüllt. Und diese gottverdammten Fliegen! Tauchen aus dem Nichts auf, surrend, unerträglich, unbezwingbar; furchtbare Quälgeister. Ich verscheuche sie, sie greifen erneut an, unerschrocken, starrsinnig, ein hundertfach sirrendes, aberwitziges Leitmotiv. Man könnte schwören, dass sie die Luft verdrängen, Ausgeburten der Langeweile, Ausdruck der Wüste in ihrer widerwärtigsten Gestalt, ihrer grenzenlosen Gemeinheit. Sie würden garantiert sämtliche Erosionen und Apokalypsen überdauern, wären immer noch da, wenn alles andere längst Vergangenheit ist.
    Die Minuten dehnen sich wie ein stechender Schmerz, ziehen und zerren an mir. Keine Folter ist schlimmer als das Warten, zumal wenn es zu keiner Gewissheit führt. Es gärt und brodelt in mir. Es hält mich nicht mehr an meinem Platz. Mein Lager ist aus Dornen gemacht. Ich traue mich weder ans Gitterfenster noch in den Vorhof hinaus. Ich ängstige mich vor jeder Sekunde, die ihre Krallen in mich schlägt. Woran denke ich? Keine Ahnung. An nichts, glaube ich. Mein Gehirn hat Aussetzer, mein Tastsinn ist diffus. Ich nehme die Dinge anders wahr als sonst. Alles reizt mich, alles stört mich. Ich bin unruhig. Meine Ängste übertrumpfen einander, triumphieren über mich. Ich zerfließe. Der Zweifel hat meine Sinne betäubt. Mir ist, als würde ich durch Glasscheiben blicken, die teils vereist sind, teils getrübt. Und bald geschieht, was ich befürchtet habe: Ein ungeheurer Taumel erfasst mich, so überwältigend, dass ich kaum merke, wie mir geschieht. Erinnerungsschwaden treiben um mich herum, auftauchend und wieder abtauchend in ein schummriges Zwielicht, gleich ätherischen Seelen. Ich strecke die Hand nach einem Gebilde aus; es verblasst zwischen meinen Fingern und zerflockt zu einer Vielzahl von Spiralen. Es geht los! Nur dass ich nicht weiß, wohin es mich führen wird. Ich bin mir jedes Geräusches bewusst, jeder Sekunde, die in die angespannte Ruhe hineintropft, doch ich habe nicht den mindesten Einfluss auf den Ablauf des Geschehens. Gleite unmerklich in eine Paral­lelwelt hinüber. Sehe alles und verstehe nichts. Weiß, dass Bruno nicht schläft, sich nur schlafend stellt; weiß, dass ich Mühe habe, meinen Atem zu kontrollieren; und ich weiß vor allem, dass jener Taumel, der wie ein frei schweifender Dämon von meinem Körper Besitz ergriffen und nun statt meiner das Sagen hat, mich in einen Abgrund reißen wird, aus dem es kein Zurück für mich gibt …
    Die Gittertür quietscht; eine Silhouette kommt herein

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