Die Landkarte der Finsternis
Ich stelle mir ekelerregende Mahlzeiten vor, ertappe mich dennoch bei Kaubewegungen. In der Stille meines Erdlochs mahlen meine Kiefer mit dem knirschenden Geräusch zweier Steine, die man aneinanderreibt. Ich muss an meine Mutter denken, sehe ihre Silhouette, die sich an der Wand abzeichnet. Meine Mutter mit kahlgeschorenem Kopf, wie ich sie nie sah, dem Gesicht einer Strafgefangenen und stoisch ergebenem Blick. Uralte Gerüche holen mich ein: der Duft der Seife, mit der meine Mutter mich wusch; der Duft von Pfannkuchen, gefüllt mit AhornÂsirup, den ich so liebte; der Geruch meiner Kindheit. Dann unappetitliche Gerüche, die die anderen überlagern; nach Analgetika riecht es und nach Chloralhydrat, nach feuchten Laken und tristen Zimmern am Ende kilometerlanger Korridore. Die Stimmen drauÃen und die Geräusche verschwinden erneut â zugleich mit den Luftlöchern im Deckel. Ich will rufen, aber ich habe zu wenig Atem, um die Stimme zu erheben, die wie ein Gerinnsel in meiner Kehle klebt. Ich habe Durst, habe Hunger ⦠Da taucht Jessicas Lächeln vor mir auf. Ich glaube, dieses Lächeln war es, das mir damals die Kraft gegeben hat, meine Schüchternheit zu überwinden. Ich war unfähig, den Menschen, die ich liebte, meine Gefühle offen zu zeigen. Dabei hätte es meiner Mutter gutgetan; sie war so allein, seit mein Vater eines Abends nach einem gewaltigen Ehekrach Zigaretten holen ging und nicht mehr nach Hause kam. Vielleicht, weil sie nie lächelte, meine Mutter. Sonst hätte ich ihr sicher gesagt, wie sehr ich sie liebte. Bei Jessica hatte ich das ja auch fertiggebracht. Damals, in diesem charmanten Pariser Restaurant im 15. Arrondissement, dem La Chaumière . Wir saÃen ganz vorn, an der Glasfront, die auf die Avenue Félix Faure hinausgeht. Jessica hatte ihr Kinn auf ihre zarten, durchscheinenden Fäuste gestützt. Ich hatte Mühe, ihrem einschüchternden Blick zu begegnen. Wir kannten uns erst seit zwei Tagen. Es war unser erstes Rendezvous. Sie hatte ihr Seminar bereits am Morgen beendet, während mein Kongress noch bis zum nächsten Tag ging. Ich hatte an der Rezeption eine Nachricht für sie hinterlassen: Ich würde mich freuen, wenn ich Sie zum Abendessen einladen dürfte. Und ich durfte. Gewisse Gelegenheiten darf man nicht ungenutzt verstreichen lassen. Wenn man nicht sofort zugreift, bringt später die bitterste Reue nichts. Das wahre Glück lacht dir nur einmal im Leben; alles andere sind bloà günstige Umstände. Ich erinnere mich nicht, was wir an jenem Abend gegessen haben. Ich labte mich an Jessicas Lächeln, es war mehr wert als alle Festmahle dieser Welt. »Wussten Sie denn, dass ich Ihre Einladung annehmen würde?«, hatte sie mich gefragt. »Aber natürlich, sonst hätte ich doch nie gewagt, für Sie eine Nachricht an der Rezeption zu hinterlassen«, hatte ich tolldreist erwidert. »Können Sie etwa Gedanken lesen, Doktor Krausmann?« â »Nur in Ihren Augen kann ich lesen, Frau Brodersen. Alles lässt sich an den Augen ablesen.« â »Und was haben Sie in meinen Augen gelesen?« â »Mein Lebensglück â¦Â« Kaum war es raus, wurden mir das AnmaÃende und die Naivität meiner Erklärung bewusst, die noch dazu von einer geradezu erbärmlichen Trivialität war, aber Jessica war keineswegs in Lachen ausgebrochen. Ich glaube sogar, es hat ihr gefallen. Unverstellte Ehrlichkeit muss nicht raffiniert sein, und wenn sie auch nicht immer mit der Geschmeidigkeit eines Kompliments daherkommt, so hat sie doch ihren eigenen Wert. Ihre Finger schlossen sich um mein Handgelenk, und ich wusste, Jessica war für mich bestimmt.
Schon wieder die Nacht. An ihrer Stille erkenne ich sie. Es ist eine verstörte, schlaflose Nacht, die sich selbst nicht ausstehen kann, die nur auf die Morgendämmerung wartet, um sich davonzustehlen. Mir ist, als machte ich mich mit ihr davon, als löste mein Körper sich scheibchenweise auf, geschüttelt von zahllosen Muskelkontraktionen. Meine Nerven sind abgestumpft, die Taue, die mich bisher gehalten haben, kurz vor dem ZerreiÃen. Seit wie vielen Tagen lässt man mich in dieser Grube modern? Hunger und Durst lassen mein Delirium zur Vorahnung werden â ich liege im Sterben ⦠Ein Trichter saugt mich ein, einem wirbelnden Nordlicht entgegen. Ich rase in schwindelerregendem Tempo durch eine Vielzahl von Feuerringen.
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