Die Landkarte der Finsternis
Stuhl zurück ⦠Ich liebe dich , antwortete ich stets, ein klein wenig gefrustet, weil mir nichts Besseres einfiel ⦠Aber was gibt es Besseres als ein »Ich liebe dich« â¦? DrauÃen krempelte Frankfurt währenddessen schon die Ãrmel hoch â mit dem Tatendrang eines Zimmermanns. Glanz gleich, ob es stürmte oder regnete, Frankfurt stürzte sich in die Arbeit. Ich sprang in mein Auto, und los gingâs, nachdem ich den Rückspiegel zurechtgerückt und für klare Sicht durch die Windschutzscheibe gesorgt hatte, meiner Selbstverwirklichung und den zu erringenden Meriten entgegen. Die StraÃen wimmelten bereits von emsiger Geschäftigkeit, die Ampeln regelten den Fluss der Autokolonnen, ich stellte per Knopfdruck am Lenkrad das Radio an und überlieà mich dem Lärm der Welt. Ein neuer Skandal in den besseren Kreisen, das ruhmlose Ende eines Gefängnisausbruchs, die triumphale Rückkehr eines Sportchampions, die Schandtaten eines Filmstars, das Scheitern einer politischen Initiative, die Polemik gegen ein Buch, die Entführung eines Journalisten auf feindlichem Terrain ⦠Ach ja, was hat die Meldung, dass wieder ein Journalist gekidnappt worden war, eigentlich in mir ausgelöst? Zeigte ich auch nur einmal bei einer solchen Nachricht eine Regung? Eins ist gewiss, ich war Lichtjahre davon entfernt, mir vorzustellen, dass mich das je betreffen könnte. Das Radio! Fester Bestandteil meiner morgendlichen Autofahrerroutine. War es versehentlich doch einmal nicht an, war ein groÃer Teil meines Vormittags verdorben. Aber das war früher, zu einer Zeit, als das, was mir im Moment wesentlich erscheint, zur banalsten Alltagsroutine gehörte. Wie konnte ich damals glauben, dass gewisse Dinge belanglos waren und ich achtlos darüber hinweggehen durfte â¦? Was gäbe ich heute um die einfachsten Gesten von früher, die kleinen Freuden und Nöte, die meiner Existenz unmerklich ihren Stempel aufdrückten? Um meinen Briefkasten mitsamt den Rechnungen, die mir die Laune verdarben, den Prospekten, die ich zum Altpapier warf, ohne auch nur einen Blick daran zu verschwenden? Die Frankfurter Parks und Grünanlagen fehlen mir, das Mainufer fehlt mir, das Stimmengewirr in den Kneipen, einfach alles fehlt mir: das friedliche Gewoge der Massen in den FuÃgängerzonen, die Warteschlangen vor den Kinos, die fliegenden Händler auf den Touristenplätzen, meine Arztpraxis, meine Patienten, mein Nachbar, sogar sein Hund, dessen Gebell mich so oft beim Lesen gestört hat, mein Sofa, mit dem die schönsten Erinnerungen verknüpft sind, mein kühlschrankfrisches Dosenbier, von dem das Schwitzwasser perlt, mein PC mit den noch nicht beantworteten Mails, ja, sogar die ganzen Spams, die ich nie in den Griff bekommen habe â all die Bruchstücke eines Lebens, die zusammengenommen aus meinem Alltag ein unbeachtetes Fest machten ⦠Fortan wird es nur noch der Form halber Tag. Für mich ist er nichts als ein Leerzeichen auf den Druckfahnen meiner Gefangenschaft, ein Leerzeichen, das zum Leerzeichen von gestern und denen der vorigen Tage hinzuaddiert wird. Mein Puzzle besteht aus derart identischen und anonymen Teilen, dass ich sie unmöglich zuordnen kann. Meine Welt ähnelt einem verunglückten Aquarell, das der Künstler in seiner Rage mit bloÃen Händen zu zerstören versucht hat. In manchen Momenten frage ich mich, ob ich nicht längst tot und begraben bin, über mir Berge von Staub, in mir der Abgrund. Ich habe aufgehört zu warten, aufgehört, mich ans Leben zu klammern; meine Entschlossenheit hat sich im Lauf sinnlos durchwachter Nächte zersetzt. Ich fühle mich auÃerstande, das Versprechen zu halten, das ich mir neulich abends selber gegeben habe, nie und nimmer die Hoffnung zu verlieren.
Sogar Bruno sieht nur noch schwarz. Das schärft anscheinend den Blick; man konzentriert sich auf seine fixe Idee und ignoriert alles ringsum. Eine Frage der Optik. Man muss nur den Ausschnitt verschieben, schon ist die Wahrnehmung eine andere. Bruno hat nicht mehr denselben Blick auf die Dinge. Er hat den Bildausschnitt verschoben und damit begonnen, Afrika auf eine Horde gesetzloser Gauner mit Stecknadelkopfpupillen und Raubtierinstinkt zu reduzieren.
Für Bruno ist der Tag bloà Bauernfängerei, ein öder Zeitvertreib, nicht der Mühe wert. Er hat resigniert. Wann immer ich ihn beobachte, ich sehe nur ein
Weitere Kostenlose Bücher