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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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und stellt ein Tablett am Boden ab. Ich stehe auf, strebe ins Freie … Eine Hand versucht, mich zurückzuhalten, mit einem Ruck reiße ich mich los, bewege mich durch den Innenhof, auf die Bresche im Befestigungswall zu, dem Tal entgegen, in dem, ich ahne es dunkel, das Verderben lauert … »Achtung, der ­Gefangene haut ab!«, schreit eine Wache. Jemand betätigt den Verschluss eines Gewehrs, schon spüre ich das Brennen des Zielfernrohrs im Genick, warte angespannt auf den Schuss, auf den die blutige Explosion folgen wird; weh tun wird es bestimmt, aber schreien werde ich nicht … »Der Gefangene haut ab …!« Brunos Stimme holt mich ein: »Mach keinen Quatsch, komm zurück …« Der Sand unter meinen Füßen gibt nach. Noch zwanzig Meter bis zum Befestigungswall, noch zehn ­Meter … »Lasst ihn laufen!«, befiehlt Joma. »Geht an eure ­Arbeit, den übernehme ich …« Ich passiere den Wall, schlittere einen kleinen Abhang hinunter und setze Fuß vor Fuß, immer geradeaus, immer dem Tal entgegen. Spitzes Geröll, glühend heiß, drückt sich in meine Schuhsohlen. Ich laufe und laufe. Ohne mich umzudrehen. Die Sonne nimmt alles ringsum unter Beschuss. Kochende Lava fließt mir über die Schultern; Schweiß verdampft von meinem Gesicht, macht mich blind. Ich laufe, laufe … Meine Sohlen sind wie geschmolzenes Blei; nirgends ein Baum, der mir so etwas wie Schatten spenden könnte. Der Atem der Hölle entflammt meine Kehle, verbrennt mir die Lungen, verwandelt meinen Kopf in ein glühendes Kohlebecken; ich beginne zu schwanken, bleibe aber nicht stehen, versuche sogar, schneller zu gehen … Meine Beine spielen nicht mit; es fühlt sich an, als zerrte ich einen Felsblock hinter mir her. Nach einigen Kilometern gehen mir die allerletzten Kräfte aus; von mir bleibt nur ein Umriss, der von seinem eigenen Keuchen vorangetrieben wird. Da taucht ein Jeep neben mir auf, bremst, fährt im Schritttempo neben mir her. Ich sehe nichts als die klapprige Motorhaube im rechten Augenwinkel. Wenn ich stolpere, verlangsamt er, bis ich wieder auf seiner Höhe bin. Joma sitzt am Steuer, spricht mich an: »He, Mann, wo willst du hin? Glaubst du, du bist hier am Trafalgar Square? Komm zu dir! Hier gibt’s nur Wüste. Auf Straßenkünstler oder Luxusläden kannst du lange warten, und Tauben kannst du hier auch keine füttern …« Ich keuche weiter, taumelnd, halluzinierend, aber wild entschlossen, nicht aufzugeben … »Hier geht’s nirgendwohin, Alter. Vor dir, hinter dir nichts als Wahnsinn und Tod. Nicht mehr lange, und du fällst in Ohnmacht, und dann muss ich dich wohl oder übel hinten an den Jeep binden, um dich heimzukarren …« Joma macht keine Anstalten, mir den Weg zu versperren; langsam rollt er neben mir her, amüsiert und gespannt abwartend, wie weit meine Beine mich noch tragen werden.
    Ich weiß nicht, wie lange ich schon laufe. Ich spüre den Boden unter meinen Tritten nicht mehr. Mein Schädel sirrt. Mir ist speiübel. Meine Augen sind nur mehr ein gesplitterter Spiegel, ein Kaleidoskop; vor mir das Tal zerspringt in tausend Stücke, verdunkelt sich und versinkt in einem Meer aus Ruß.
    Ich tauche aus dem Nebel auf, taste um mich herum. Bin ich noch von dieser Welt? Dünne Lichtfäden fallen von oben ein, erhellen spärlich den Raum. Ich bin in einer Art unterirdischem Verlies eingeschlossen, zwei Quadratmeter, nicht mehr, darüber ein Deckel mit lauter kleinen Belüftungslöchern. Man hat mir meine Schuhe und meine Hose ausgezogen, meine Unterhose und mein Hemd. Ich bin nackt wie ein Wurm, schwimme in meinem Erbrochenen. Ich nehme Stimmfetzen war, vereinzelt Geräusche, die mein Herzschlag in ein anschwellendes Stakkato zerlegt. Ich versuche, mich aufzurichten, nicht ein Muskel gehorcht mir; ich bestehe nur noch aus Schmerz, bin ein einziger, grässlicher Kopfschmerz.
    Die Hitze ist unerträglich. Da ich mich nicht aufsetzen kann, bleibe ich liegen, in der Hoffnung, mir so das bisschen Energie aufzusparen, das mir helfen wird durchzuhalten. Nicht lange, und die Lichtfäden verschwinden; keine Ahnung, ob jetzt Nacht ist oder ob ich wieder ohnmächtig bin.
    Zwei weitere Male noch fällt Licht durch den Deckel und erlischt. Und noch immer niemand, der sich über mein Schicksal beugt. Ein Geschmack von Plastilin vergiftet mir den Mund.

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