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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Wach auf, Kurt , spricht eine Stimme aus dem Jenseits zu mir. – Ich will aber nicht aufwachen. – Warum willst du nicht aufwachen, Kurt? – Weil ich gerade träume. – Und wovon träumst du, Kurt? – Von einer Welt, aus der Freude und Leid verbannt sind, in der kein Stein fürchten muss, dass man auf ihm herumtrampelt, nur weil er wehrlos ist und nicht ausweichen kann; von einer Welt der Stille, so tief, dass alle Gebete verstummen; einer Nacht, so sanft, dass der Morgen nicht zu dämmern wagt … Ich träume von einer reglosen Reise durch Zeit und Raum, frei von allen Ängsten und Versuchungen; von einer Welt, in der selbst Gott seinen Blick von mir wendet, damit ich schlafen kann, bis das Rad der Zeit stillsteht. – Welches ist denn diese reglose Welt, Kurt? – Mein ewiges Reich, in dem ich Erde sein werde und Wurm, dann Erde und Erde, dann ein winziges Staubkorn im Odem des Nichts. – Es ist zu früh für dich, an diesem Ort zu verweilen, Kurt. Kehre zu deinen Ängsten zurück, das ist besser als die kosmische Kälte. Und jetzt wach auf, wach auf, bevor es zu spät ist. Ich fahre aus dem Schlaf hoch wie ein Ertrinkender, der in buchstäblich letzter Sekunde den Hals aus dem Wasser reckt. Ich bin in Essen, meiner Geburtsstadt. In kurzen Hosen, am Rockzipfel meiner Mutter, die mich zur Heiligen Messe mitnimmt. Wir laufen durch das fahle Licht einer Gasse. Die Pfarrkirche ragt vor einem bleigrauen Himmel auf. Im Inneren der Kirche ist es eisig. Die primitiven Gewölbe lasten schwer auf den Schatten und machen die Andacht frostig wie in einem Kühlhaus. Auf schlichten Holzbänken beten Menschen mit reuevollen Mienen. Der Pastor hat mit der Predigt begonnen. An sein Gesicht habe ich keine Erinnerung, doch seine Stimme hallt laut durch mein Gedächtnis. Ich war damals erst sechs Jahre alt – eigentlich dürfte ich mich gar nicht erinnern, weil ich den Sinn seiner Rede nicht verstand, dennoch steigt seine Stimme verblüffend klar und deutlich aus den Tiefen meines Unterbewusstseins empor: Wahrlich, wenig ist der Mensch. Doch in seinem vollendeten Körper, dem das Alter von Jahr zu Jahr stärker zusetzt, den der kleinste Bazillus niederstreckt, existiert ein magischer Bezirk, ein geheimes Kraftreservoir. Hier, im Verborgenen, schlummert unsere wahre Stärke: unser Glaube an das, von dem wir denken, dass es gut für uns ist. Wenn unser Glaube fest genug ist, werden wir jeden Tiefschlag überwinden. Denn keine weltliche und keine Schicksalsmacht können uns hindern, uns immer wieder neu zu fangen und zu verwirklichen, wenn wir uns nur den Glauben an unsere Träume bewahren. Natürlich haben wir schwerste Prüfungen und titanische Kämpfe zu bestehen, die von großer Abschreckung sind. Doch wenn wir nicht nachlassen, sondern weiterhin fest an uns glauben, finden wir aus jeder Sackgasse einen Weg. Denn unser Wert liegt in unseren Verdiensten begründet, und unsere Rettung resultiert aus folgender Elementarlogik: »Wenn zwei konträre Kräfte aufeinandertreffen, unterliegt jene, deren Motivation die schwächere ist.« Wenn wir also unumstößlich und unwiderruflich den Sieg erringen wollen, dann muss unsere Zuversicht stärker sein als jeder Zweifel, stärker als jedes noch so widrige Geschick.
    Für den Bruchteil einer Sekunde blitzt das Gesicht des Pastors vor mir auf, und Hans’ Stimme durchzuckt mich wie ein Stromstoß: Halte durch. Jeder Tag ist ein Wunder.
    Der Deckel hebt sich; ich lege schützend die Hände über die Lider, um den jähen Lichteinfall abzuwehren, und warte, dass mein Sehvermögen zurückkehrt. Allmählich wird die Anordnung der Steine erkennbar, dann jene der Mauern. Etwas fällt zu Boden, rollt mir zwischen die Beine. Eine Orange. Eine schlaffe, dellige Orange, kaum größer als eine Pflaume. Ich greife in fiebernder Hast nach ihr – bin mir der unschicklichen Gier meiner Geste wohl bewusst, doch stört es mich nicht – und beiße hinein wie in das Leben selbst. Ohne sie zu schälen. Ohne sie auch nur abzureiben. Als ich höre, wie sie unter meinen Zähnen zerplatzt, als der allererste Saftspritzer meinen Gaumen mit seiner Säure benetzt, als ihr Geschmack mich mit meinen Sinnen versöhnt – denn mit einem Schlag sind Schmecken, Riechen, Hören wieder da –, da wird mir klar, ich bin unversehrt . Ich schließe die Augen, um

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