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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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monumentalen Akazie zu gönnen, deren Zweige über und über mit Votivgaben für Ahnen und Marabuts behängt sind: Tücher, Stoffpüppchen, Schmuck, mit Haaren umwickelte Steckkämme, winzige Tontöpfe mit getrocknetem Tierblut. Der Boden rings um das Heiligtum ist mit Dromedarköteln und den Überresten früherer Biwaks übersät. In der Nähe des heiligen Baums entdeckt Bruno einen Brunnen ohne Rand, aber mit einer Art Trog. Wir waschen uns von Kopf bis Fuß, reinigen unsere Kleidung und breiten alles zum Trocknen auf den glühend heißen Felsen aus. Bruno befördert aus den Tiefen des Seesacks frische Boxershorts zutage, aber mir sind sie viel zu groß; ich begnüge mich mit einem Känguru-Slip und einem Unterhemd, beides noch originalverpackt. Ich bin ziemlich abgemagert und habe am ganzen Leib Pickel, von denen manche eine gräuliche Färbung aufweisen. In meiner rechten Achselhöhle ist ein Furunkel gewachsen, zwei weitere verunstalten meine Leistenbeuge; meine Oberschenkel sind faltig und eingefallen, meine Knie von einer dicken weißlichen Kruste bedeckt. Bruno bleibt unbekleidet. Mit seinem rebellischen Bart und dem Schlangenhaar hat er Ähnlichkeit mit einem Guru. Er macht ein paar Gymnastikübungen, streckt die Arme und verschränkt sie vor der Brust, geht in die Hocke, kommt wieder hoch und lässt seinen Hals unter lautem Knacksen der Nackenwirbel kreisen, dann wendet er mir, in der Absicht, mir ein Lächeln zu entlocken, den Rücken zu und beugt sich vor, um mit den Fingern die ­Zehenspitzen zu berühren, wobei er mir sein haariges Hinterteil präsentiert, mit dem er plump zu wackeln beginnt. Er fährt mit seiner clownesken Darbietung so lange fort, bis ich laut auflache. Geschmeichelt von seinem Erfolg, breitet Bruno die Arme zu einer grotesken Choreographie aus und wechselt mit verblüffender Leichtigkeit zwischen mystischem Tanz und klassischem Ballett hin und her, wobei er einmal den zornigen Schamanen, einmal die Ballerina mimt. Völlig überrascht von seinem Improvisationstalent und seiner komödiantischen Be­gabung, von der ich keine Ahnung hatte, lache ich Tränen, und es ist, als würde ich mich in einem homerischen Hustenanfall von all dem Unrat befreien, der mir Leib und Seele vergiftet hat.
    Wir nehmen unsere Mahlzeit im Schatten der Akazie ein und legen uns zur Siesta nieder, während ein Windhauch uns ein wenig Kühlung zufächelt.
    Als ich aufwache, ist Bruno in die Lektüre der Gedichte von Joma Baba-Sy vertieft. Er klappt den Band mit einem Ausdruck der Bewunderung zu, betrachtet eine Weile das Coverfoto und bemerkt, dass es nahezu unglaublich ist, dass ein solcher Ausbund an ungestümer Wut und Bestialität wie dieser Joma so viel Sensibilität in sich getragen hat …! Dann schlägt er das Buch wieder auf, überspringt ein paar Seiten und stoppt bei einem Gedicht, das er mit lauter Stimme vorliest:

    Afrika,
    Totenkopf,
    Der in trüben Gewässern schwimmt
    In Meeren ohne Horizont
    Was haben deine sonnenstichigen Bastarde
    Aus deinem Gedächtnis gemacht?
    An deinen geschundenen Gestaden
    Vermodern deine Romanzen
    Wie Treibholz
    Und gottlos liegt dein Himmel brach
    Dein frommster Wunsch jagt seinem Echo nach.
    Afrika, mein Afrika
    Was wurde aus deinen Trommeln
    Im Schweigen der Leichenberge?
    Was aus deinen Barden
    Im blasphemischen Tosen der Waffen?
    Was aus deinen Stämmen
    Im betrügerischen Spiel der Nationen?
    Ich habe deine Flüsse befragt
    Und deine verlorenen Dörfer
    Habe in der Trance deiner Frauen
    Nach deinen Trophäen gesucht
    Nirgends habe ich
    Deine alten Legenden gefunden.
    Deine Könige wurden vom Thron gestoßen
    Nicht anders als deine Holzstatuen
    Deine Folklore – verstummt
    Deine Traditionen – erloschen
    Deine Geschichten flackern auf
    Im Tyrannenlob
    Dein Schicksal verleugnet dich Mutter Afrika
    Einer Verstoßenen gleich
    Und keins meiner Gebete
    Erkennt sich wieder in dir.
    Afrika, mein Afrika
    In eine Hand hast du mir den Tod gegeben
    Und in die andere das Unrecht
    Und hast mich sämtlicher Schutzpatrone beraubt,
    Aller Heiligen, Apostel und Propheten
    Mir nichts als meine Tränen gelassen
    Um sie über der Schmach zu vergießen
    Die deine Missgeburten dir zufügen
    Jeden Tag, den der Herrgott werden lässt.
    Was soll aus mir werden
    Im Schatten deiner Raben?
    Was soll ich noch hoffen
    Ich, der zu träumen

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