Die Landkarte der Finsternis
Standgericht gestellt und noch am selben Tag zum Tode verurteilt. Der Prozess fand in der Kantine statt, unter lauter Soldaten, die mit klirrenden Gabeln ihr Essen fassten. Das Gericht bestand aus dem Unteroffizier und zwei Obergefreiten als Gerichtsassessoren. Ich fand die Prozedur übereilt und die Feierlichkeit des Gerichts eher grotesk, aber ich war jung, und in Afrika ist absurdes Theater ja nichts AuÃergewöhnliches.«
Gedankenverloren zeichnet er mit dem Finger kleine Kreise in den Sand. Er wirkt zerstreut, sein Gesicht verschlieÃt sich wie eine Auster.
»Im Morgengrauen sind sie mich holen gekommen. Sie mussten mich über den Boden schleifen, meine Beine waren butterweich. Ich wollte schreien, mich wehren, aber nichts in mir reagierte. Ich zitterte wie Espenlaub, während sie mich am Pfahl festbanden. Als ich dann das ErschieÃungskommando vor mir sah, wurde mir klar, wie allein auf der weiten Welt ich doch war. Das Universum war auf die GröÃe eines Gewehrlaufs geschrumpft. Ein Alptraum! Das Blut in meinen Schläfen pochte lauter als jede Kriegstrommel. Und dann diese Stille am SchieÃstand! Eine Stille, dass man meilenweit ein Streichholz hätte knacken hören können â¦Â«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Sicher! Das übersteigt jedes Vorstellungsvermögen. Als der Unteroffizier ⺠Anlegen!â¹ brüllte, da kam es mir, ganz ohne Erektion. Und als er âºFeuer!â¹ rief, da habe ich mir in die Hose gemacht. Ich habe keinen Schuss gehört, aber ich habe deutlich gespürt, wie die Kugeln in mich eindrangen, mir den Brustkorb zersprengten, meine inneren Organe zerfetzten. Ich bin zusammengebrochen, in Zeitlupe. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich am Boden lag. Ich blieb im Staub liegen, die Glieder verrenkt, und starrte in den Himmel, der bleiern über mir hing. Ich hab überhaupt keinen Schmerz gespürt. Mir war, als löste ich mich unmerklich auf, wie sich kräuselnder Rauch. Und als ich gerade den Geist aufgeben wollte, da brach der Unteroffizier in schallendes Gelächter aus. Dann fing das ErschieÃungskommando an loszuwiehern. Und zuletzt kam die restliche Einheit schenkelklopfend hinter dem Wall hervor und schüttete sich aus vor Lachen ⦠Der Unteroffizier half mir wieder auf die Beine und schwor mir, er hätte sich in seinem ganzen verdammten Leben noch nie so köstlich amüsiert wie gerade eben jetzt.«
»Es war eine Scheinhinrichtung!«
»Genau. Eine Scheinhinrichtung. Nur ein Zeitvertreib für die Soldaten, die sich in ihrer Pampa, wo sie ganz auf sich allein gestellt waren, zu Tode langweilten. âºNichts für ungut!â¹, hat er gesagt, der Unteroffizier, und mir auf die Schulter geklopft. Zur Entschädigung hat er mir noch ein Päckchen geschmuggelte Zigaretten in die Hand gedrückt und einen Tritt in den Hintern verpasst, damit ich schnellstens aus seinem Blickfeld verschwinde â¦Â«
»Du hast sie dann doch hoffentlich ebenfalls vor den Kadi gezerrt?«
»Aber klar doch!«, höhnt er und rappelt sich hoch. »So, weiter gehtâs.«
»Kommt nicht in Frage.«
»Wie meinst du das?«
»Ich rühre mich nicht von hier weg. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind, und mir reichtâs. Du kannst ja weiterziehen, wenn du unbedingt willst. Ich jedenfalls bleibe hier, und zwar so lange, bis das Schicksal sich meiner annimmt. Auf die eine oder andere Art.«
Mein Entschluss ist unklug, aber ich stehe dazu. Was ich sage, empfinde ich auch so und fordere es ein. Ich bin am Ende meiner Kräfte, am Rande eines Abgrunds. Vor mir ist nichts als dieser Abgrund, der Absturz ins Bodenlose und das scheuÃliche Gefühl der Kapitulation. Was ist jetzt noch von Bedeutung, was ist es nicht? Die hysterische Suche nach einem Retter oder der Verzicht darauf? Ich kann nicht mehr vor lauter Selbstzerfleischung. Bruno begreift, dass ich gerade nicht in Hochform bin und auch nicht in der Laune, mich umstimmen zu lassen. Er bedrängt mich nicht weiter und geht zurück zum Pick-up, um unser Gepäck zu sortieren. Er füllt zwei Rucksäcke mit dem absolut Notwendigsten, deponiert sie mitsamt zwei Trinkwasserflaschen und dem Maschinengewehr auf einem Grasbüschel, sucht sich einen Strauch, der etwas Schatten gibt, lässt sich fallen und vergräbt das Gesicht in seinen Händen.
Der Abend überrascht uns, ohne dass wir uns vom Fleck gerührt
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