Die Landkarte der Finsternis
verlernt hat?
AuÃer dort zu enden
Wo alles begann
Zwischen einem Grabstein
Und einem annullierten Treueschwur.
»Der helle Wahnsinn, findest du nicht?«
Ich zucke die Achseln.
Bruno legt das Buch zur Seite, durchsucht den Lederranzen, entdeckt das Hochzeitsfoto. Schauplatz der Feier ist ein groÃer, mit Lampions geschmückter Innenhof. Inmitten der angeheiterten Hochzeitsgäste posiert Joma mit ernster Miene neben seiner Braut. Merkwürdigerweise, zumal ich seit zwei Tagen und zwei Nächten verzweifelt jeden Gedanken an die Tragödie verdränge, deren Urheber ich bin, verspüre ich den Wunsch, mehr über mein Opfer in Erfahrung zu bringen. Ich weià sehr wohl, das ist keine besonders vernünftige Idee, doch ähnlich dem Mörder, den es an den Tatort zurücktreibt, drängt mich eine morbide Neugier dazu, Bruno das Foto aus der Hand zu nehmen. Die schlechte Bildqualität erlaubt mir nicht, hinter die Maske von Joma zu blicken, der zwischen all den Gästen kaum erkennbar ist. Als Nächstes sichten wir die Zeitungsausschnitte, die einer Lokalzeitung von mehr als bescheidener Machart entstammen. Die Texte wimmeln von Druckfehlern und loben allesamt mit groÃem Pathos die Sprachgewalt eines Dichters, der nicht seinesgleichen hat . Eine in etwas nüchternerem Tonfall gehaltene Besprechung wartet mit einem Interview auf, in dem Joma den atypischen Werdegang vom mittellosen Dorfschneider zum Dichtersänger beschreibt, der auf dem Standpunkt steht, dass des Dichters Wort dem Schicksal Paroli bietet. Auf einem anderen Ausschnitt ist Joma zu sehen, wie er, zwischen einem Kreuzworträtsel und einem Fehlersuchspiel, aus den Händen einer traditionell gewandeten Afrikanerin einen Pokal entgegennimmt, darunter finden sich einige Zeilen über die Zeremonie. Ein wenig später stoÃen wir auf einen Kasten mit einer Kurzmeldung, in der von der Explosion einer Bombe die Rede ist, die zwei Kinder verletzt und eine Frau getötet hat, allem Anschein nach die junge Ehefrau des Dichters Joma Baba-Sy, dem erst vor zwei Wochen der Léopold-Senghor-Preis verliehen worden ist. Der letzte Satz ist rot unterstrichen, der ganze Artikel sorgsam in einer Plastikhülle verwahrt.
»Schon seltsam, das Leben«, seufzt Bruno, während er alles wieder ordentlich im Ranzen verstaut.
Ich gehe meine Wäsche holen.
Wir laden unsere Sachen in den Pick-up. Bruno ist nicht sonderlich angetan von der Idee weiterzufahren. Er lässt seinen Blick zum Wassertrog schweifen, zum Marabut-Baum, den Votivgaben in seinen Zweigen, dem Frieden, der über allem liegt, und schlägt vor, die Nacht über noch hierzubleiben. Da es ein heiliger Ort sei, wären wir hier vor Angriffen sicher, und mit etwas Glück würde sich vielleicht noch ein menschliches Wesen zeigen. Die Dromedarkötel sind nicht ganz frisch, aber der Brunnen sieht aus, als würde er oft benutzt. Als ich ihm gerade freudig zustimmen will, dringt ein zischendes Geräusch an unsere Ohren. »Was war denn das?«, frage ich Bruno überrascht, der nur die Stirn runzelt. Ein rascher Rundumblick lässt nichts Verdächtiges erkennen. Doch da spritzt neben uns schon eine Staubfontäne hoch und nach kurzem Intervall bereits die nächste. Bruno stöÃt mich ins Wageninnere, startet den Motor, legt den Gang ein und braust mit quietschenden Reifen davon. Krachend zersplittert die Heckscheibe. »In Deckung!«, brüllt Bruno und gibt noch mehr Gas. Ein schrilles Geräusch, und das Krakelee eines Spinnennetzes überzieht die Windschutzscheibe. Man schieÃt auf uns! Irgendjemand schieÃt gerade auf uns ⦠Der Pick-up kurvt im Slalom zwischen Geröll und wilder Vegetation dahin, um den Kugeln auszuweichen, ruckelt über die unebene Piste, schieÃt mehrere Meter weit durch die Luft und knallt mit höllischem Scheppern brutal auf seine vier Reifen, während Bruno das Letzte aus dem Motor herausholt. In unserer kopflosen Flucht rempeln wir mit voller Wucht gegen irgendein Hindernis; der Wagen gerät ins Schleudern, wäre fast umgestürzt und fängt sich im letzten Moment. Der Aufprall ist so furchtbar, dass ich mit dem Kopf gegen die Deckenleuchte knalle. Ich klammere mich an meinem Sitz und am Armaturenbrett fest. Nach einer rasanten Schussfahrt merkt Bruno, dass die Lenkung nicht mehr auf Kurs bleibt. Unter dem rechten Kotflügel ertönt ein merkwürdiges Geräusch, das
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