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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Duft, nenn es Gestank, der Geruch, der dich umgibt, bleibt doch derselbe. Der Südpol ist nur der Nordpol, der Kopfstand macht, und der Okzident nur der Orient von gegenüber. Und weißt du auch, warum, Herr Doktor? Weil es keine Nuancen mehr gibt. Und da, wo es keine Nuancen mehr gibt, da kann jedermann alles und jedes legitimieren, einschließlich der widerwärtigsten Barbarei.«
    Es wird allmählich Abend. Der Greis hat mittlerweile alles Holz eingesammelt, das noch herumlag. Er läuft zigmal achtlos an uns vorbei. Nur einmal, da hat er abwehrend die Hand gehoben, als Bruno ihm zu Hilfe kommen wollte, und gewartet, dass der Franzose sich zurückzieht, bevor er sich wieder ans Reisigsammeln machte. Und nie hat sein Blick uns auch nur gestreift. Seit einer halben Stunde warten wir jetzt wohl schon, dass er eine Minute für uns übrig hat. Wir wollen wissen, in welchem Land wir sind, ob es eine Stadt, oder auch eine Kaserne hier in der Nähe gibt, Menschen eben, bei denen wir unterkommen können. Bruno hat mehrfach versucht, den Greis behutsam anzusprechen, ohne ihn zu verschrecken, doch es ist, als redete er zu einem Dschinn. Man hätte schwören können, sie durchquerten einander in einer Art von chinesischem Schattenballett. Ob der alte Mann am Ende blind und taub ist? Nein, er kann hören und sehen, doch er weigert sich, mit uns zu sprechen. In feierlicher Pose steht er vor der Strohhütte. An der Art, wie er die Lippen bewegt, erkennen wir, dass er betet. Dann greift er nach einem Ölkanister, der vor seinen Füßen steht, schüttet ihn über den leblosen Körpern aus, bespritzt das Reisig und die Strohwände mit Öl, entzündet ein Streichholz und schleudert es ins Innere der Hütte. Eine blaue Flamme verbreitet sich über die Reisigbündel, lässt erst das Laub auflodern, dann die Strohbündel, wird stärker und stärker, während sie die Wände erfasst. Nicht lange, und aus den Dachritzen entweicht unter lautem Knistern beißender grauer Rauch. Der Alte sieht zu, wie aus dem Feuer Hunderte gefräßiger Fangarme wachsen, die im rot glühenden Flackerschein erst die Zweige auseinanderreißen und dann in einem gewaltigen Flammenstrudel die Leichen und ein paar ärmliche Möbel verschlingen.
    Â»Komm, lass uns gehen«, drängt Bruno.
    Â»Und der Alte?«
    Â»Der wird uns nichts sagen, und mitkommen wird er auch nicht.«
    Â»Frag ihn doch wenigstens. Er könnte uns Auskunft geben …«
    Â»Kurt Krausmann!«, ruft Bruno entnervt. »Dieser Mann ist mit den Seinen gestorben!«
    Wir steigen wieder in den Pick-up. Bruno reißt unter lautem Scheppern den Schalthebel herum, wendet das Fahrzeug und rast in die anbrechende Nacht hinein. Als ich mich umdrehe, sehe ich den Alten, der vor der lodernden Hütte steht wie ein Verdammter vor dem Höllentor.
    Wir haben unser Lager in der Nähe einer Höhle aufgeschlagen.
    Der schale Geruch der Geröllwüste steigt in der Frische des Abends auf. Irgendwo jault ein Schakal. Die Nacht kehrt zurück, um dem Tag seine letzten Illusionen zu rauben und die Dunkelheit ob ihrer Unfähigkeit zu beschämen. Seit über einer Stunde haben wir kein Wort miteinander gewechselt. Jeder ist damit beschäftigt, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Wir haben im Schutz der Höhle ein Lagerfeuer entfacht, etwas Dörrfleisch gegessen, einige Konservendosen geleert und einen derart bitteren Kaffee getrunken, dass es mir fast den Gaumen weggerissen hätte. Die Fahrt auf den holprigen Wegen hat uns dermaßen durchgerüttelt, dass wir beschließen, uns bald schlafen zu legen.
    Bruno wirft eine Handvoll Sand in die Flammen, um das Feuer zu löschen, und schleppt sich unter allerlei Verrenkungen zu einer Düne, um zu pinkeln. Erleichtert breitet er danach eine Decke über den Boden, klopft sich den Staub vom Hosenboden und streckt sich lang aus. Ich höre, wie er sich auf der Suche nach einer behaglichen Schlafstellung eine Weile auf seinem Nachtlager herumwälzt. Nach etlichem Hin und Her stößt er einen Seufzer des Wohlbehagens aus, winkelt die Knie an und rührt sich nicht mehr. Ich weiß, er wird kein Auge zutun, bevor er im Geist nicht seine sämtlichen Expeditionen durchgegangen ist sowie alle Gesichter, die in seinem Leben einmal etwas bedeutet haben. Früher hat er mir jeden Abend ein Kapitel aus seiner afrikanischen Saga erzählt,

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