Die Landkarte der Finsternis
Opferaltäre und die Massengräber gröÃer sind als jede Mülldeponie! Es gibt ihn also wirklich, und ich bin mittendrin. Habe Abgründe überwunden und härteste Prüfungen bestanden, nur um im Darfur zu landen! Ich weià nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Die Kurzreportagen von damals sind jäh wieder präsent, und jetzt stehen sie mir klar und deutlich vor Augen, die täglichen Massaker und die nicht abreiÃenden Flüchtlingsströme, die Krähenschwärme über den Kinderleichen und die surrealistischen Berichte der ÃberleÂbenden. Wie aber überleben in einer Schlangengrube, einer immensen Arena, in der jedes Foulspiel erlaubt ist und der Tod dich jederzeit ohne Vorwarnung umsäbeln kann? Dann wäre das Ende des Tunnels, das unser Führer Jibreel uns verspricht, vielleicht doch nur ein frommer Wunsch oder ein Ablenkungsmanöver? Meine Zuversicht sinkt gegen null. Es fühlt sich an, als würde ich gleich in Ohnmacht fallen. Ich erkenne meine Âeigene Stimme nicht wieder, als ich mich hervorwürgen höre:
»Das haut mich jetzt aber um!«
»Wie bitte?«
»Wir sind im Darfur? Sind Sie sicher?«
»Ich bin seit zwei Jahren hier im Einsatz.«
»So lange kann man hier überleben? Dieses Land gilt als Vorzimmer der Hölle.«
Sie wirft den Kopf in den Nacken und lacht ein kleines, gutturales Lachen, bei dem ihre Schultern erbeben.
»Es gibt keine Hölle auf Erden, Herr Kollege, nur Dämonen, und die kann man besiegen. Es war nicht leicht, diese Gegend bewohnbar zu machen, aber wir haben sie mit Zähnen und Klauen verteidigt. Wir mussten uns gegen die Regierung und ihre Schergen behaupten, gegen Legionen von Erleuchteten und gegen die Todesschwadronen, die uns von hier verjagen wollten. Manche unserer Ãrzte wurden entführt, andere ermordet, aber das hat uns in unserem Durchhaltewillen nur bestärkt. Wir gewinnen Tag für Tag an Terrain.«
Ich hätte gern etwas von ihrem Enthusiasmus. Nur bin ich nicht sicher, dass das an meinen Zweifeln groà etwas ändern würde. Die Naivität, die aus ihren Worten spricht, schmerzt. Und trägt nicht gerade zu meiner Beruhigung bei.
Elena Juarez stellt fest, dass ihr Becher keinen Tropfen Kaffee mehr enthält. Ich biete ihr meinen an, den ich noch nicht angerührt habe, sie schiebt ihn sachte beiseite, schlingt die Arme um die Knie und legt ihr Kinn obenauf. An der Stelle, an der sich ein Knopf gelöst hat, schimmert die seidige Wölbung ihres Busens durch ihr Hemd. Die Sonne ist unter einer Wolke blutroter Spritzer verschwunden, und die ersten Sterne funkeln schon am Himmelszelt.
»Sie sagen, Sie seien im Golf von Aden entführt worden, Herr Krausmann?«
»Ja, in den dortigen Gewässern. Warum fragen Sie?«
»Für gewöhnlich operieren die Piraten in Somalia. Dort lässt es sich leichter verhandeln. Mir ist schleierhaft, was Ihre Entführer sich vom Sudan versprochen haben. Die Spielregeln und das, worum es geht, sind von Land zu Land verschieden. In den Sudan zu gehen, während Somalias Küsten im Chaos versinken und einen viel gröÃeren Handlungsspielraum bieten, finde ich höchst merkwürdig.«
»Ist denn nicht gerade das typisch für diesen Kontinent?«
»Was meinen Sie?«
»In Afrika ist doch alles höchst merkwürdig. Man tötet und stiehlt, verlangt Lösegeld und springt mit dem Leben um, als wäre es keinen Heller wert ⦠Ob das nun in Somalia oder im Sudan passiert, was ändert das schon gro�«
»Einerseits nicht viel. Andererseits â¦Â«
»Andererseits was, Frau Kollegin? Was ich erlebt habe, das ist durch nichts zu rechtfertigen. Weder durch soziale Umbruchprozesse noch durch Revolutionen. Das geht mich alles eigentlich gar nichts an. Das ist weder meine Geschichte noch meine Zukunft. Diese Menschen sind mir wildfremd, nichts verbindet mich mit ihnen. Wir waren nur auf der Durchreise, mein Freund Hans und ich. Wir segelten in internationalen Gewässern. Unser Ziel waren die Komoren. Das Beste daran: Unsere Reise diente einem guten Zweck. Und wo steckt er jetzt, Hans Mackenroth? Welcher fliegende Händler bietet ihn auf welchem Gehweg feil? Das und sonst gar nichts ist mein Problem. Ob sich das hier oder beim Nachbarn abspielt, ist mir nun wirklich egal. Ich würde nur gern wissen, was aus meinem Freund geworden ist und ob ich eine Chance habe,
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