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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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ersinnen, aber ich werde doch nicht die Augen vor den Tatsachen verschließen. Ich hatte noch nie mit diesem Typ von Patienten zu tun, und da ich weder Handschuhe noch Masken noch sonst irgendwelche Schutzvorrichtungen habe, befürchte ich, mir irgendeine tropische Mikrobe einzufangen. Besonders stolz bin ich nicht auf mich, aber ich kann es nicht ändern.
    Bruno wickelt seinen Tuaregschal ab und eilt Lotta Pedersen zu Hilfe, um den delirierenden Dorfschullehrer zu besänftigen. Obwohl er sich jeden Kommentars enthält, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich ihm leidtue.
    Eine Stunde später habe ich zu meiner eigenen Überraschung eines der Kinder auf dem Arm – seine Mutter wäre fast in Ohnmacht gefallen und konnte ihren Sohn nicht mehr selber tragen. Einen mageren Jungen mit einem kahlen Schädel und etwas faltiger Haut auf den Knochen. Das, was er anhat, muss einmal ein Hemdchen gewesen sein, darunter bläht sich ein Ballonbauch. Er starrt mich aus leeren Augen an. Ich ziehe ihm die Fingerchen aus dem Mund, er lässt sie einen Moment baumeln, dann sind sie wieder zwischen seinen Lippen verschwunden. Ich hole sie ihm nochmals aus dem Mund; er versteht, dass ich nicht will, dass er an seinen Fingern lutscht, wendet den Kopf ab und lässt sich schlaff gegen meine Schulter fallen. Meine Hand bewegt sich wie von selbst, um seinen Sperlingskörper an mich zu drücken. Ich spüre sein kleines Herz, das an meinem schlägt. Etwas in mir rutscht wieder an seinen Platz – ich verwandele mich soeben in ein menschliches Wesen zurück.
    10.
    Abends, zur Stunde, da die Erde den Schwenk einer Sanduhr vollendet, nehme ich auf einem Felsblock Platz und beobachte, wie sich die Sonne tief unten am Horizont Gewalt antut. Die Hitze ist verflogen, und über der Ebene liegt die ungewisse Stille einer Waffenruhe. Eine lange Flucht zerfledderter Bäume zieht sich zwischen glattpolierten Hügelpanzern dahin, die die letzten Strahlen des Abendlichts reflektieren. In weniger unwirtlichen Breiten hätte ein derart farbenprächtiges Fresko mein Herz berührt. Doch ich habe keinen Sinn mehr für das Schauspiel der Natur. Was mich vormals begeisterte, bedrückt mich heute. Ich fürchte, meine früheren Freuden sind für immer verloren, ich werde nie wieder denselben Blick auf die Dinge haben. Meine Leidenschaft hat die Anker gelichtet und die Nachsicht, die ich als wohlwollender Betrachter einst für die Schwächen eines Talents empfand, sich verflüchtigt. Der Zauber der Dinge spricht mich nicht mehr an. Und wenn die Natur noch so sehr Rembrandt nachahmt oder bunte Bilderbogen in Serie produziert … Mich interessiert nur noch eins: das Licht am Ende des Tunnels. Wann zeigt es sich endlich? Wenn ich könnte, würde ich die Zeit beschleunigen, damit die Sonne nur noch untergeht, um in der nächsten Minute wieder aufzugehen, und es, wie durch ein Wunder, noch vor Anbruch der Nacht wieder tagt. Seit der Guide uns das nahe Ende unserer Odyssee in Aussicht gestellt hat, hält es mich nicht mehr an meinem Platz. Eine seltsam dumpfe Unruhe hat mich erfasst und mehrfach an die Spitze des Konvois getrieben, bis Bruno mich wieder zur Räson gerufen hat. Gestern hat mir ein Vater, dem aufgefallen war, dass mein Schuhwerk nicht für Gewaltmärsche taugt, die Espandrillos seines Sohnes vermacht. »Da, wo er jetzt ist, braucht er sie nicht«, hat er mir erklärt. Heute habe ich noch immer Blut an den Füßen, aber der Schmerz hat nachgelassen. Ohnehin tragen mich schon längst nicht mehr meine Füße, mich trägt die Hoffnung auf die bevorstehende Rettung. Ich bin kurz davor, all die Heiligen zu lobpreisen, an die ich noch nie geglaubt habe.
    Elena Juarez taucht mit zwei Bechern Kaffee auf, setzt sich neben mich und versinkt in der Betrachtung der glühenden Himmelsfarben. Sie ist eine echte Schönheit mit dem Profil einer griechischen Göttin und großen schwarzen Augen, deren Blick einen umschließt. Sie dürfte um die dreißig sein, obwohl ihr Gesicht mit den Wangengrübchen noch fast wie eine Knospe wirkt und sie die Figur eines Teenagers hat. Ihr braunes Haar fällt ihr in weichen Wellen bis zur Taille hinab, wenn sie es nicht gerade zu einem Knoten geschlungen hat. Zwei Tage sind wir nun schon zu Fuß unterwegs, und nie hatte ich das Gefühl, es würde ihr jemals zu viel. Sicher, sie geht früh zu Bett und schläft wie

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