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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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ein Murmeltier, aber sobald sie wach ist, kennt sie keine ruhige Minute. Gestern Abend ist sie eigens gekommen, um nach meinen Füßen zu sehen, weil ihr mein hinkender Gang aufgefallen war. Ihre Stimme klang so sanft, dass ich auf den Inhalt ihrer Worte kaum geachtet habe. Und solange sie sprach, hing mein Blick an ihren purpurroten Lippen. Das brachte sie ziemlich in Verlegenheit. Ich brauchte eine Weile, bis mir auffiel, dass sie längst gegangen war.
    Â»Sieht nach einem Wüstenwind aus«, bemerkt sie.
    Â»Nein …!«
    Â»Doch. Wir sollten wieder unsere Tuaregschals hervorholen und beten, dass er sich nicht zum Sturm auswächst.«
    Sie führt den Becher an ihre Lippen und nippt am Kaffee. Sie hat elegante Hände mit schlanken Fingern, trägt keinen Ring und auch sonst keinen Schmuck, bis auf eine alte Uhr mit Lederarmband und einen Christusanhänger um ihren schmalen Hals.
    Â»Wir haben schon wieder eine alte Frau verloren«, sagt sie bedauernd.
    Â»Ich weiß.«
    Sie nickt, und eine rebellische Haarsträhne fällt ihr über die Augen. Wieder führt sie den Becher an ihren runden, sinnlichen Mund und blinzelt in den Sonnenuntergang. Ich frage mich, wie ihre zarten Schultern mit der so schweren wie unkalkulierbaren Verantwortung, die auf ihnen lastet, bloß fertig werden. Wie eine so junge Frau es schafft, im Bewusstsein der überall lauernden Gefahr zu leben, und woher sie vor allem ihre Motivation bezieht, zumal sie selbst dann schon unwägbare Risiken eingeht, wenn sie dem erstbesten armen Teufel zu Hilfe eilt? Ich versuche, sie mir vorzustellen, wie sie durch den Busch flieht, von einer Meute aufgestachelter Killer gehetzt, oder als Gefangene in einem stinkenden Versteck, der Willkür ihrer unflätigen Entführer preisgegeben – ihre Opferbereitschaft erscheint mir so unmenschlich wie die Bedingungen, unter denen diese Stämme dahinvegetieren, die sie zu retten versucht.
    Sie zuckt zusammen.
    Â»Wie bitte? Was haben Sie gerade gesagt?«
    Â»Was meinen Sie?«
    Â»Oh, entschuldigen Sie, mir war so, als hätten Sie mit mir gesprochen.«
    Â»Nein, nein … Kann sein, dass ich laut gedacht habe.«
    Sie presst ihre prächtigen Lippen über betörend weißen Zähnen zusammen. Allein die Art, wie sie an ihrer Unterlippe nagt, löst Glücksgefühle in mir aus.
    Â»Und wie geht es Ihren Füßen?«
    Â»Na, es geht so … Wie kommt es eigentlich, dass Ihr Camp bis heute niemanden losgeschickt hat, um nach Ihnen zu suchen? Sie haben seit Tagen kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Normalerweise müssten die anderen doch in Sorge sein und Suchtrupps oder Hubschrauber losschicken, um Sie aufzuspüren.«
    Â»Im Camp wissen sie nichts von unserer Notlage. Unser Funkgerät wurde zusammen mit dem Landrover zerstört.«
    Â»Und wenn schon … Sie sind doch zu einer Mission aufgebrochen. Ihre Route ist bekannt. Und das hier ist alles andere als eine Urlaubsregion. Die Gegend ist gefährlich. Es wundert mich, dass Sie sich selbst überlassen sind.«
    Â»Nichts beweist, dass sie keinen Suchtrupp losgeschickt haben. Aber mit einer Armada von Hubschraubern zu rechnen, wäre wohl übertrieben. Wir sind hier schließlich in Afrika. Die Mittel, die wir zur Verfügung haben, sind lächerlich.«
    Â»Und Sie nehmen das hin, unter solchen Umständen zu arbeiten?«
    Â»Ja, zum Glück … Stellen Sie sich nur mal vor, wie es wäre, wenn dieses Land komplett von der Welt abgeschnitten wäre, wenn diese Menschen überhaupt keinen Beistand hätten … Zum Glück gibt es die NGOs, Herr Doktor Krausmann.«
    Â»Wo genau sind wir hier eigentlich?«
    Â»Im Darfur.«
    Mein Adamsapfel macht einen Hüpfer.
    Â»Was?! Ich dachte, wir sind im Sudan.«
    Â»Der Darfur gehört zum Sudan … Der Sudan ist das größte Land Afrikas. Mehr als zweieinhalb Millionen Quadratkilometer. Fünfmal so groß wie Spanien.«
    Der Darfur … Ich bin im Darfur, diesem mörderischen Brennpunkt sämtlicher separatistischer Gewalttätigkeiten, die allabendlich über den Bildschirm flimmerten und die ich zwischen einem Schluck Bier und einem Telefonanruf nur zerstreut zur Kenntnis nahm. Im Darfur, diesem Atlantis des Horrors, in dem grauenhafte Monster ihr Unwesen treiben, die kein Mensch je zu Gesicht bekommt, wo die Finsternis so bluttriefend ist wie andernorts

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