Die Landkarte der Finsternis
Sicherheit gebracht.«
»Es ist gut, Herr Obeid«, sagt Elena Juarez und winkt einen der Pfleger herbei.
Der Krankenpfleger nimmt den Mann zur Seite, legt ihm den Arm um die Schultern und führt ihn weg, während er freundlich auf ihn einredet. Doktor Juarez erklärt uns, dass es sich um einen ehemaligen Dorfschullehrer handelt, den einzigen Ãberlebenden eines Massakers, dem seine ganze Familie zum Opfer gefallen ist, und dass er seine Klage von früh bis spät herunterrattert, zumeist an die Steine und Sträucher gewandt.
»Wir haben auch noch andere, die wie durch ein Wunder überlebt haben und, so ist zu befürchten, unheilbar traumatisiert sind«, ergänzt Doktor Orfane. »Was ist Ihr Fachgebiet, Doktor Krausmann?«
»Allgemeinmedizin.«
»Das ist doch schon mal was«, sagt Frau Doktor Juarez und gibt Befehl zum Aufbruch.
Bruno und ich ziehen los, um unsere Rucksäcke zu holen, die wir jenseits des Talwegs zurückgelassen haben. Bei unserer Rückkehr fordert Lotta uns auf, das Gewehr an Jibreel zu übergeben, einen groÃen Kerl mit Turban. Bruno händigt es ihm erleichtert aus. Wir setzen uns in Bewegung, Doktor Juarez und der Führer an der Spitze des Zuges, Lotta und Doktor Orfane in der Mitte und die beiden Krankenpfleger als Schlusslicht. Bruno und ich trotten hinter einem jungen Mann in zerlumpter Kleidung her, der einen Karren zieht, auf dem eine alte Frau mit erloschenem Blick liegt â es ist nicht wirklich ein Karren, eher eine ausgetüftelte Konstruktion aus Holzlatten mit zwei Schubkarrengriffen, die auf zwei Mofareifen montiert ist. Die Felgen schwanken knirschend über die Steine. Die alte Dame ist winzig klein, wie eine Mumie, die man aus ihrem Sarkophag herausgeschält hat. Ihr kachektischer Körper wird bei der kleinsten Erschütterung hin- und hergeworfen, es ist herzergreifend und tragisch zugleich. Der junge Mann zieht mit nicht nachlassender Energie in ebenmäÃigen Schritten seinen Karren hinter sich her, dem Kraftaufwand, den ihn das kostet, gegenüber so gleichgültig wie ein Roboter.
»Ihre GroÃmutter?«, fragt Bruno.
»Meine Mutter!«, verbessert ihn der junge Mann.
»Oh, Verzeihung ⦠Ist sie krank?«
»Ihnen entgeht wohl gar nichts.«
Der Ton des jungen Mannes ist schneidend. Bruno bietet sich an, ihn abzulösen, er handelt sich eine höfliche, aber bestimmte Abfuhr ein.
»Mein Freund hier ist Arzt«, versucht er es weiter. »Wenn Sie möchten, kann er Ihre Mutter untersuchen.«
»Danke, nicht nötig.«
»Vielleicht ist es etwas Schlimmes«, insistiert Bruno.
»Im Leben gibt es nichts Schlimmes, auÃer dem Unrecht, das man begeht.«
Der junge Mann beschleunigt seinen Schritt, damit wir begreifen, dass er in Ruhe gelassen werden will.
Vor uns schleppt sich mehr schlecht als recht, hier mit einer Last auf dem Kopf, dort mit einem Baby auf dem Rücken, die Schlange der Ãberlebenden dahin und zeigt mir erbarmungslos die Fratze einer Welt, von deren Niedertracht ich keine Ahnung hatte und für die ich nicht gerüstet bin. Nicht eine Sekunde habe ich mich auf eine solche Welt vorbereitet. Eine Welt, in der Götter ohne Barmherzigkeit schon keine Haut mehr an den Fingern haben, weil sie ihre Hände fortwährend in Unschuld waschen. Eine Sisyphos-Welt, eine Welt menschlicher Feigheit und Schande und gnadenlos wütender Epidemien, eine Welt der Entbehrungen, der Heimtücke und der Höllenqualen, durch die Heerscharen von lebenden Toten geistern, auf der Stirn das Zeichen der gekreuzigten Hoffnung, das Rückgrat tief gebeugt unter dem Gewicht eines namenlosen Fluchs, der seine Identität und sein Wesen nicht preisgibt.
Beim ersten Halt knöpfe ich mir Bruno vor. Ich erkläre ihm, dass ich alt genug bin, um anderen meine Unterstützung anzubieten, und auf seine Dienste gut verzichten kann. Der Franzose ist völlig verdattert über meine Reaktion. In Wahrheit habe ich ja nur Angst, diesen Menschen zu nahe zu kommen. Ihr Unglück geht mir zwar zu Herzen, aber es löst auch Panik in mir aus. Ich könnte mir einen Haufen plausibler Entschuldigungen ausdenken, mein Verhalten damit rechtfertigen, dass ich selber extreme Belastungen hinter mir habe, und vorgeben, dass ich eine Art von Hypochondrie entwickelt hätte, weil ich schon so lange den Geruch von Seife vergessen habe. Ja, ich könnte Ausreden ohne Ende
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