Die Landkarte der Finsternis
Kult um die Gewalt. Das ist die Wahrheit, eine andere gibt es nicht. Wir haben es mit einer menschlichen Katastrophe zu tun. Die Leute hierzulande sind verloren. Solange sie verantwortungslose Regierungschefs haben, werden sie darunter leiden ⦠Es gibt eine logische Erklärung für jeden Bankrott. Und Afrika ist bankrott, mein Freund. Ihm vorzugaukeln, die Narben auf seiner Haut seien wundervolle Tätowierungen, hieÃe aus Afrika ein weltfremdes Naturkind, ja einen Narren zu machen. Ãberschütte einen Narren mit Gold und lass ihn laufen: Kaum hat er ein paar Sprünge getan, herrscht pures Chaos. Und hier ist es, das Chaos, da, vor unseren Augen ⦠Sieh sie dir an: Sie haben Angst, haben alles verloren, flüchten und wissen nicht, wohin, und es vergeht kein Tag, an dem nicht einige von ihnen verhungern oder vor Erschöpfung sterben. Das ist Afrika, Bruno. Eine entzündete Wunde. Eine sinnlose Vergeudung und der schiere Wahnsinn. Und wer in der Zwangsjacke steckt, dessen Image kannst du nicht aufpolieren. Ich finde es unerträglich, wie du eine verbrannte Erde beweihräucherst, auf der nur noch Hoffnungslosigkeit wächst. Man muss den Dingen ins Gesicht sehen, muss die richtigen Fragen stellen. Was ist denn aus den Schulen geworden, den Ausbildungszentren, den Institutionen, dem Arbeitsmarkt? Wo sind Ordnung und Gerechtigkeit geblieben, Demokratie und Menschenwürde? Ich sehe überall nur Flüchtlingsmassen und Ãberfälle, Vergewaltigungen ohne Ende und die Verelendung eines Volkes, das weder Götter noch Verdienste kennt, das Gaunern und Halsabschneidern ausgeliefert ist, und Diktatoren, die ganze Ethnien ausrotten â und das, mein Freund, das ist schlimmer als der Tod.«
»Sag, was du willst, Kurt, wir sind nicht auf derselben Wellenlänge«, ist alles, was Bruno erwidert, bevor er sich gekränkt erhebt. Meine Moralpredigt trifft ihn wie eine persönliche Beleidigung.
»Nicht einmal auf demselben Planeten, Bruno.«
Am nächsten Morgen bricht der Konvoi nicht zur gewohnten Stunde auf. Ein leichter Wüstenwind ist aufgekommen, doch der eigentliche Grund für die Verspätung ist der junge Karrenzieher, der neben seiner Mutter kniet, die Faust im Mund. Die alte Frau liegt auf einer Sandbank. Ihr brauner Teint ist aschfahl, und sie scheint mit dem Tode zu ringen. Elena Juarez, Lotta Pedersen und die beiden Krankenpfleger stehen ihr bei â mit einem halbleeren Medikamentenkoffer. Elena Juarez misst ihr den Blutdruck und verstaut mit mutloser Miene ihr Stethoskop. Die alte Frau atmet leise rasselnd, unter gröÃter Mühe, ist trotz der ärztlichen Notversorgung nicht wieder zu sich gekommen. Ein Flüchtling nach dem anderen taucht auf, im Glauben, es handele sich um einen Todesfall. Mitfühlende Hände legen sich auf die Schultern des jungen Mannes. Der nimmt das gar nicht wahr. Die spanische Ãrztin sagt etwas in einem örtlichen Dialekt zu ihm. Der junge Mann nickt und beiÃt sich auf die Faust, vermutlich, um seine Tränen zu unterdrücken. Als er merkt, dass aller Augen erwartungsvoll auf ihn gerichtet sind, räuspert er sich und verkündet, dass das Abenteuer für ihn und seine Mutter hier zu Ende sei. Doktor Orfane erklärt er, dass die alte Dame die StöÃe des Karrens nicht länger ertragen könne, die harten Planken hätten ihr die Haut bis auf die Knochen wund gerieben, und es sei sinnlos, ihren Leidensweg noch in die Länge zu ziehen. Elena Juarez redet beschwörend auf ihn ein, doch unter allen Umständen mit der Gruppe zu gehen, rät ihm, eine Decke unter den Körper der alten Frau zu legen, um das Geruckel zu mildern und die StöÃe des Karrens abzufangen. Die beiden Pfleger bieten sich an, statt seiner den Karren zu ziehen, doch der junge Mann lehnt kategorisch jede Hilfe ab. Da schaltet Bruno sich ein. Seine groÃe Kenntnis der afrikanischen Mentalität, auf die er sich so viel einbildet, macht ihn glauben, er könne dort Erfolg haben, wo die anderen versagen. Der junge Mann hört ihn noch nicht einmal an. Im Ãbrigen will er niemandes Ratschläge hören. Eine Flüchtlingsfamilie meldet sich freiwillig, um ihm beizustehen, umsonst. Er will alleine mit seiner Mutter zurückbleiben und niemandem etwas schuldig sein; sein zerrissenes Bündel, seine Wasserration und seine paar Krumen Lebensmittel würden schon genügen. »Geht endlich los«, sagt
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