Die Landkarte der Liebe
seit einer Woche, war sie viele Stunden allein am Strand entlanggegangen. Finn glaubte, dass sie über ihren Vater nachdachte. Mia hatte ihn noch immer nicht besucht, und Finn hatte auch nicht nach dem Grund dafür gefragt: Wenn es an der Zeit war, würde Mia zu ihm gehen.
Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, aus kleinen Hinweisen zu schlieÃen, wie Mia sich fühlte. Wenn sie ihn während einer Unterhaltung aus den Augenwinkeln ansah und an ihrer Unterlippe knabberte, hieà das meist, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. Dann musste er sich ein wenig zurücknehmen, damit sie sich vorwagen konnte. Nach dreizehn Jahren Freundschaft â länger als manche Ehe â konnte er solche Signale mühelos entschlüsseln, doch was er nicht aus ihren Gesten deuten konnte, war, was sie für ihn empfand.
Finn blieb stehen. »Lass uns von hier aus gucken«, sagte er und wies auf eine kleine Anhöhe neben dem Pfad. Der Himmel hatte sich in ein zartes Indigo aufgehellt. Finn nahm die Stirnlampe ab, warf seinen Beutel auf den Boden und lehnte sich dagegen. Mia kauerte sich neben Finn, zog die Knie an und gähnte.
Sie holte eine dünne Decke, die sie sich im Hostel geborgt hatte, aus der Tasche und wickelte erst Finn, dann sich selbst darin ein. Er roch ihr Shampoo: Pfirsich und Avocado. Ihm wurde heiÃ. Er schluckte und schloss die Augen. So zu empfinden war gefährlich.
»Finn«, sagte sie, die Lippen nahe an seinem Ohr.
»Ja?«
»Danke â dass du mit mir nach Maui gekommen bist.«
»Das wäre was anderes, wenn dein Dad in Kasachstan leben würde«, scherzte er und rang sich ein Lächeln ab.
»Ich mein es ernst.« Sie sah ihm tief in die Augen. Zu tief. »Es bedeutet mir viel, dass du hier bist.« Dann beugte sie sich vor, hob das Kinn und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Plötzlich war er wieder sechzehn Jahre alt und stand in der vollen Konzerthalle, Schweià lief ihm über den Rücken, der Geschmack von Mias Lippen war noch frisch.
In diesem Moment wusste er es so deutlich wie auch damals schon: Er war in sie verliebt.
Und dann kroch das erste Morgenlicht über den Horizont, malte rosa Schlieren an den Himmel und färbte die bauchigen Wolken silbern.
»Mein Gott!« Mia beugte sich vor.
In der Sprache der Ureinwohner bedeutete Haleakala »Haus der Sonne«. Und es war eine majestätische, Ehrfurcht gebietende Gottheit, die sich leuchtend rot über den Kraterrand erhob. Als die Sonne höher stieg, flutete sie die karge Mondlandschaft mit Licht. Die Asche glühte. Nun sah Finn die Kegel und das Kraterbecken, eine fremde, entrückte Umgebung, die ihm nicht von dieser Welt zu sein schien. Minuten später lachte die Sonne über dem Vulkan. Finn und Mia spürten ihre Wärme im Gesicht.
Es war unbeschreiblich, jenseits aller Vorstellungskraft, und dies war nur einer der vielen unbeschreiblichen Momente, die auf dieser Reise warteten. Wenn Finn an die kommenden Wochen und Monate dachte â in denen er jede einzelne Stunde in Mias Gesellschaft verbringen würde â, empfand er eine süÃe Qual. Er würde neben Mia liegen und hören, wie ihr Atem ruhiger und tiefer wurde, aber er konnte sie nicht im Arm halten. Er würde mit ihr bei Sonnenuntergang zu Abend essen, nicht aber ihre Hand halten. Er würde sich anhören, was sie beschäftigte, aber das, was ihn beschäftigte, das eine, konnte er ihr nicht offenÂbaren.
All die vielen Monate mit ihr zu reisen, bei einer so intimen Nähe, war ein Ding der Unmöglichkeit, ein Verrat an sich selbst. Er hatte das Gefühl, dass er zu einer Entscheidung genötigt wurde: Du musst es ihr sagen.
Mia zog ihre Wanderschuhe und die feuchten Socken aus. Ihre FüÃe waren rot und geschwollen, ihre Beine bis zu den Socken voller Staub. Auf den Schultern, der Nase und den Wangenknochen hatte sie einen leichten Sonnenbrand. Dankbar stieg sie in die Dusche und genoss den kalten Wasserstrahl.
Ihre Unterkunft war das Pineapple Hostel am nördlichen Ufer von Maui. Mia gefiel es dort, die Schlafsäle strahlten in RegenÂbogenfarben, und es gab sogar einen kleinen Gemüsegarten. An jedem anderen Tag hätte sich Mia auch in die Hängematte gelegt oder unter eine Palme gesetzt und gelesen. Doch dafür war sie viel zu rastlos, denn während der Wanderung war sie zu dem Entschluss gelangt, dass sie an diesem Abend Mick
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