Die Landkarte der Liebe
besuchen würde.
Sie fuhr sich mit dem Deoroller über die Achselhöhlen und band ihr nasses, glänzendes Haar zusammen. Dann zog sie ein sauberes T-Shirt und ihre Shorts an und griff nach ihrer Tasche.
Finn war in der Gemeinschaftsküche, er kochte Pasta und unterhielt sich mit einigen Surfern, die gerade im Hostel angekommen waren.
»Tut mir leid, ich muss kurz stören«, sagte sie und legte flüchtig eine Hand auf seinen Arm. »Ich geh zu Mick.«
»Jetzt?«
»Ja.«
»Entschuldigt mich kurz.« Finn folgte ihr aus der Küche. »Warte, Mia. Bist du sicher? Ich kann doch mitkommen.«
»Das möchte ich allein tun.«
Er nickte. »WeiÃt du, wohin du gehen musst?«
»Der Hostelbesitzer hat gesagt, es sind zu Fuà nur zehn Minuten.«
»Aber es wird dunkel.«
»Auf dem Rückweg nehm ich mir ein Taxi.«
Finn fuhr sich mit dem Daumen am Kinn entlang. »Na, ich wünsch dir jedenfalls, dass es gut wird.«
Mia stürmte los, damit sie es sich nicht anders überlegte. Sie musste durch den Ort gehen, das kleine Paia mit seinem unkonventionellen Flair und seinen Bioläden, vegetarischen Cafés, Surfshops und Strandboutiquen. Ringsumher lagen Zuckerrohrfelder, die bis an den Ortsrand reichten. Der süÃe Geruch hing in der Luft, und alles sah so grün und üppig aus, als würde es nach einem frischen Regenschauer atmen.
Plötzlich tauchten zwei kleine Jungen, barfuÃ, mit nassem Haar und Surfbrettern unter dem Arm, auf einem Trampelpfad auf. Mia hätte nach rechts in die StraÃe einbiegen müssen, die zu Mick führte, doch sie fand sich auf dem Pfad wieder, der zwischen Palmen und Papayabäumen hindurchführte und an einem breiten Strand endete.
Die feuchte Luft roch parfümiert, nach frisch verstreuten Blütenblättern. Mia zog ihre Flip-Flops aus und watete durch den warmen Sand, der sich in der Abendsonne rosa färbte. Von der Wanderung am Morgen hatte sie Muskelkater in Waden und Oberschenkeln und sank deshalb nach wenigen Schritten in den weichen Sand.
Die Wellen rollten in geordneten Reihen heran wie eine gewaltige Wasserarmee. Sie erhoben sich elegant und flieÃend bis zu ihrem höchsten Punkt, dann brachen sie, und machtvoll schlugen Gischt und Schaum ans Ufer.
Weiter drauÃen vor den brechenden Wellen entdeckte Mia einen einsamen Surfer. Sie beobachtete, wie sich eine groÃe Welle hinter ihm aufbaute und er heftig paddelte, bis die Welle ihn trug. Er richtete sich auf und glitt unterhalb des Wellenkamms entlang. Er wendete zwei Mal mit weichen, flieÃenden Bewegungen, sein Surfboard fräste eine Schaumspur durch das Wasser, dann sprang er über den Kamm der Welle, Augenblicke nur, bevor sie schäumend und donnernd zerfiel. Mia hatte den Atem angehalten.
Sie zog das Tagebuch aus ihrer Tasche und legte es sich auf die Knie. Auf einer Doppelseite klebte der Zettel mit der Adresse ihres Vaters, ringsumher tasteten sich Kommentare und Fragen an sie heran.
Mia ordnete während des Schreibens ihre Gedanken. Wenn sie sah, wie Worte auf einem Stück Papier Gestalt annahmen, erkannte sie mit einem Mal all die Gefühle, die unerkannt und unbenannt in ihr gebrodelt hatten. Beim Sprechen hatte sie gröÃere Mühe. Ihr ging es nicht wie Katie, die sich einfach auf einen Stuhl fallen lassen, die Hände kummervoll an ihr Gesicht legen und äuÃern konnte, was immer sie bedrückte. Es spielte keine Rolle, welchen Rat sie dann von Mia oder ihrer Mutter auch bekam, offenbar genügte der Akt des Sprechens, um ihre Gedanken zu klären â wie ein strammer Marsch an einem kalten Morgen, der den Kopf frei machte. Hinterher jedenfalls war Katie immer viel gelöster.
Mia schaute wieder in ihr Tagebuch. Zwei Fragen stachen aus allem anderen heraus. Mia hatte sie umkringelt. Die Erste lautete schlicht: Wer ist Mick?
Die grundlegenden Fakten waren ihr bekannt: Mick war sieben Jahre älter als ihre Mutter, die er mit achtundzwanzig Jahren kennengelernt hatte. Sie hatten vier Monate später schon geheiratet und sich ein kleines Haus in Nord-London gekauft, wo Katie und Mia zur Welt gekommen waren. Mick hatte in der Musikbranche gearbeitet und im Laufe seines Berufslebens drei Independent-Labels gegründet; die ersten beiden machten Pleite, das dritte aber hatte er verkauft und sich dann auf Maui zur Ruhe gesetzt. Ihrer Mutter hatten sie wenig entlocken können,
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