Die Landkarte des Himmels
Nutzens beraubte. Als man – um ein weiteres Beispiel von Fortschritt zu geben – daraufhin beschloss, alle Abortgruben zu schließen und mit einem kümmerlichen ersten Kanalsystem zu verbinden, das in die Themse mündete, hatte dies eine Choleraepidemie zur Folge, der an die fünfzehntausend Menschen zum Opfer fielen und der fünf Jahre später eine zweite folgte, die eine ähnliche Zahl von Toten forderte. Mein Vater erzählte mir öfter, wie in dem heißen Sommer von 1858 der Gestank so unerträglich wurde, dass man die Vorhänge in den Fenstern des Parlaments mit Kalk bestrich, um den beißenden Geruch zu bannen, der von der Themse aufstieg, welche durch die von fast zwei Millionen Einwohnern eingeleiteten Exkremente zu einer gärenden Kloake geworden war. Das Jahr ging als das Jahr des Großen Gestanks in die Geschichte ein. Als Folge davon beauftragte das Parlament – trotz der exorbitanten Kosten, die dies verursachte – den Ingenieur Joseph Bazalgette, ein ganz neues Kanalisationssystem zu bauen. Ich weiß noch, wie mein Vater mir – so stolz, als hätte er selbst das große Werk vollbracht – ein unterirdisches Röhrennetz von 83 Meilen Länge, errichtet aus Ziegelstein und Portlandzement, beschrieb, durch das die häuslichen Abwässer zusammen mit dem normalen Regenwasser erst zwanzig Meilen unterhalb der London Bridge in den Fluss geleitet wurden. Darum verliefen unter unseren Füßen und parallel zur Themse jetzt fünf Hauptkanäle, in die unzählige kleinere Nebenkanäle mündeten und das verwirrende Labyrinth unterirdischer Röhren bildeten, das in der Zukunft das große Privileg haben sollte, den letzten Überlebenden der Menschheit Zuflucht zu gewähren. Meinem Vater hätte es gefallen, wenn er noch hätte erfahren können, dass das, was er eine der großen Errungenschaften der Technik nannte, auch im Jahr 2000 noch von Nutzen war.
In die Kloaken von London gelangten wir einfach dadurch, dass wir den nächstbesten Gullydeckel hochhoben und eine rostige Eisenleiter hinunterkletterten, die in die Wand eingelassen war. Als wir unten ankamen, ohne dass einer von uns von den Sprossen abgerutscht war, was mir im nachlassenden Licht schon wie eine Großtat vorkam, übernahm Shackleton mit konzentriertem Blick die Führung. Er benötigte ein paar Sekunden, um sich zu orientieren, dann führte er uns durch einen engen, gewundenen Tunnel, durch den wir uns fast nur tastend vorwärtsbewegen konnten, bis wir auf einen größeren stießen, der mir nach seiner Höhe und Breite einer der drei nördlich der Themse verlaufenden Hauptgänge zu sein schien.
Dort schlug uns sofort ein unbeschreiblicher Gestank entgegen, der wie eine Harpune durch die Nase direkt ins Gehirn drang, sich dort festsetzte und noch die fernsten Erinnerungen mit Schmutz besudelte. Wenigstens gab es hier etwas Licht von funzeligen Lampen, die in größeren Abständen an der Wand hingen. Die Mauern schwitzten eine ekelhafte schleimige Substanz aus, die in dem trüben Licht schimmerte, das uns wenigstens einen ungefähren Eindruck von den Örtlichkeiten gewinnen ließ, durch die wir in den nächsten Stunden unter der Stadt marschieren mussten, um nach Queen’s Gate zu gelangen. Die Kanalisation war ein endloser Gang mit gewölbter Decke und einem schmalen Kanal in der Mitte, von dem aus enge Tunnel abzweigten, die jedoch genauso lang zu sein schienen wie der, durch den wir gingen. Die meisten waren wohl dazu da, Fäkalien in den Hauptkanal zu befördern, während andere zu Kellern oder Lagerräumen oder Pumpstationen führten, zu Örtlichkeiten, die ich dankbar war, nicht entdecken zu müssen. Durch den Kanal in der Mitte unseres Tunnels wälzte sich eine stinkende, bröckelige Brühe, in der nicht nur Abfälle schwammen, sondern einmal auch ein Katzenkadaver vorübertrieb. Zum Glück war neben dem Kanal auf beiden Seiten genügend Platz, um im Gänsemarsch voranzukommen, wobei man natürlich immer auf die Ratten achten musste, von denen einige uns begrüßten, indem sie zwischen unseren Füßen herumhuschten, um dann fiepend wieder im Dunkeln zu verschwinden.
Obwohl uns fast übel wurde von dem Gestank, setzten wir uns in Zweierreihe in Bewegung und versuchten, auf dem stellenweise mit glitschigem Moos bedeckten Boden nicht auszurutschen. Dort unten war es feuchtkalt und absolut still, bis auf ein gelegentliches Blubbern und Rülpsen der Kanalisation. Ich muss allerdings gestehen, dass diese Verdauungsgeräusche für meine Nerven
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