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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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würde auch erklären, warum jeder seiner Mitgefangenen die Ingenieure anders sah, meistens als grauenvolle Kreaturen, weil sie ihnen mit nichts als Hass begegneten.
    Charles jedoch hatte die Wissenschaften, den Fortschritt und die Wunder, die Jules Verne in seinen Romanen beschrieb, stets verehrt. Ja, Charles gehörte zu jener Bruderschaft von Zukunftsgläubigen, die vor der Invasion der Marsmenschen von Schiffen geträumt hatten, die den Atlantik in fünf Tagen durchpflügten; von Flugmaschinen, mit denen man durch die Luft reisen konnte; von schnurlosen Telefonen, von Zeitreisen … Wahrscheinlich war das der Grund, dass er die Marsingenieure als langbeinige Engel sah, die ein Dutzend Wunder in der Sekunde vollbrachten. Sogar jetzt, als er schon wusste, dass ihre Wunder darin bestanden, seine Welt in einen Albtraum zu verwandeln, sah er sie immer noch so; was ihm – wenn er sich denn den Gedanken gestattete – einiges über seine moralischen Konturen verriet.
    Die Sonne war untergegangen, ließ den Horizont noch eine Weile grünlich erstrahlen und tauchte die Ruinen der Stadt in ein unwirkliches Licht, das den das Lager umgrenzenden Wald aus überwachsenen Bäumen nicht mehr durchdrang. Die Erde gehörte nicht mehr den Menschen. Die Invasoren hatten es sogar geschafft, ihnen während ihrer letzten Tage die tröstliche Schönheit des Sonnenuntergangs zu nehmen. Der Gedanke ließ Charles’ alten Zorn wieder aufflammen, der jedoch kaum mehr als ein schwaches Echo seines einst lodernden Widerstandsgeistes war. Mit knirschenden Zähnen schwor er, der Mensch werde sich zurückholen, was ihm gehörte, wenn er auch noch nicht wusste, wie. Die Monate der Ohnmacht und vollkommenen körperlichen Erschöpfung hatten den rasenden Zorn in harmlose, verbitterte Melancholie verwandelt. In wenigen Jahren würde die Menschheit vollständig ausgerottet sein. Daran ging kein Weg vorbei. Aber war es nicht auch besser so? Er hatte das britische Weltreich schon immer kritisch beurteilt. Vor der Invasion, als niemand ahnen konnte, dass die Welt, wie man sie kannte, von heute auf morgen nicht mehr existieren würde, hatte Charles ständig dagegen polemisiert oder gewütet, je nachdem, ob es regnete oder die Sonne schien. Er war stets der Meinung gewesen, das Staatsschiff werde von unfähigen Kapitänen gelenkt, deren einzige Fähigkeit darin bestand, Staatsgelder zu verschleudern und sich zu bereichern, während mehr als acht Millionen Menschen in beschämendem Elend lebten und starben. Zu denen gehörte er zwar nicht, und im Allgemeinen kümmerte es ihn auch nicht allzu sehr; aber es war doch ganz offensichtlich, dass die menschliche Zivilisation als solche ein Fehlschlag war. Sollte man also Tränen um sie vergießen? Vielleicht nicht. Vielleicht war es besser, wenn die Dinge liefen, wie sie liefen, und der Mensch vom Angesicht der Erde verschwände, wenn von seiner unseligen Anwesenheit im Weltgefüge nicht einmal eine Erinnerung bliebe.
    Seufzend zog Charles das Tagebuch unter der Matratze hervor und fragte sich zum hundertsten Mal, warum er sich die Mühe machte, seine Erinnerungen zu Papier zu bringen, die ja doch kein Mensch je lesen würde, warum er sich nicht einfach auf den Strohsack fallen ließ und seinen Geist befahl. Nein, das konnte er nicht tun. Noch eine Niederlage konnte er nicht einstecken. Also setzte er sich an den Tisch und schlug das Tagebuch auf. Und dann begann der Mann, der vergessen hatte, wie die Sonnenuntergänge einst ausgesehen hatten, wieder zu schreiben.
    Tagebuch von Charles Winslow
    15 . Februar 1900
    Vor der Marsinvasion war London die größte und mächtigste Stadt der Welt. Das hieß aber nicht, dass sie auch die sauberste war, wie ich schmerzlich eingestehen muss, genau wie mein Vater zu seiner Zeit, was aber nicht hierher gehört. Bevor die Erde aufgerissen wurde, um die künstlichen Eingeweide einer modernen Kanalisation zu verlegen, hatte London seine Exkremente in Abortgruben entsorgt, die so regelmäßig geleert wurden, wie die finanziellen Möglichkeiten ihrer Besitzer es zuließen. Bei diesen Gelegenheiten wurden immer wieder winzige Skelette gefunden, da es sich eingebürgert hatte, dass Frauen ihre Früchte außerehelicher Amouren in diesen stinkenden Löchern entsorgten. Jeden Morgen rumpelte eine Karawane mit Fäkalien beladener Karren aus der Stadt, um draußen die Felder zu düngen, bis aus Südamerika importierter Guano in Mode kam und den Exkrementen der Londoner ihres einzigen

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