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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Augen aufzulösen und ihm damit zu zeigen, dass er nur ein Produkt seines erschöpften Geistes war. Und dann begannen die letzten Worte, die er mit Clayton gewechselt hatte, langsam in sein Gehirn vorzudringen, lose erst und verstreut zwischen Erinnerungsfetzen: die Flucht durch die Kanalisation, Gilliams und Emmas Tod, der schreckliche Absturz durch den Tunnel … Was hatte Clayton ihm zugerufen, kurz bevor er abgestürzt war? Einer Eingebung folgend, ging Wells zu einem in der Nähe stehenden Papierkorb und fischte eine zerknüllte Zeitung aus dem Müll. Das Datum auf der Zeitung war der 23 . September 1829 . Er starrte mit offenem Mund auf das Datum. Er war im London von 1829 ! Verständnislos schüttelte er den Kopf, Panik erfasste ihn. Noch acht Jahre bis zum Tod von König William  IV . und bis der Erzbischof von Canterbury dessen gerade achtzehn Jahre alt gewordene Nichte Victoria im Kensington Palast aufsuchen und ihr mitteilen würde, dass sie gerade den mächtigsten Thron der Welt geerbt hatte. Himmel … es waren noch siebenunddreißig Jahre bis zu seiner eigenen Geburt! Wie war das möglich?
    Er war durch die Zeit gereist … Gott im Himmel, er hatte eine Zeitreise hinter sich!
    Wie der Erfinder in seinem Roman, bloß ohne die blöde Maschine. Offenbar hatte er einen Mechanismus in seinem Hirn aktiviert, wie Clayton es ihm vor wenigen Stunden in seinem Keller erklärt hatte … na ja, in Wirklichkeit waren es noch neunundsechzig Jahre, bis der Agent ihm die überraschende Erkenntnis mitteilen würde, derweil über ihren Köpfen die Kampfmaschinen London zerstörten. Nicht dieses London; ein zukünftiges London. Wie zarte Sternschnuppen begannen Claytons letzte Worte nun durch seine Gedanken zu ziehen und allmählich sein Hirn zu erhellen. Als er, nur von Claytons Hand gehalten, über dem Abgrund hing und den tödlichen Strudel unter sich sah, hatte er kaum darauf geachtet, was der Agent ihm zugerufen hatte. Doch jetzt hörte er seine Worte wieder überraschend deutlich, als wäre der Agent direkt über ihm und brülle gegen das Tosen des Wassers an; obwohl noch einige Jahre vergehen würden, bis Clayton überhaupt in diese unbegreifliche Welt hineingeboren wurde und bei einem seiner Versuche, sie doch zu begreifen, seine Hand verloren hatte.
    «Wells!», hatte er ihm zugerufen, als er strampelnd über dem Abgrund hing. «Hören Sie! Sie sind die Lösung! Verstehen Sie?
Sie sind die Lösung

    «Was?», hatte er verwirrt zurückgefragt.
    «Erinnern Sie sich an die Worte des Gesandten?», schrie der Agent, während er voller Schrecken spürte, wie er langsam dessen Hand entglitt. Dann hörte er die Stimme von Charles, der dem Klang nach aber noch viel zu weit entfernt war, um rechtzeitig bei ihnen sein und ihn ergreifen zu können.
    «Clayton, tun Sie was! Ich rutsche …!», schrie er voller Panik.
    Der Agent aber hatte nur seine verrückte Idee im Kopf.
    «Hören Sie zu, verdammt noch mal, dann können Sie Ihr Leben retten! Unser aller Leben …!», rief Clayton. «Der Gesandte hat gesagt, er hätte Angst vor Ihnen; und die hat er sicher wegen dem, was ich Ihnen bei mir im Keller gesagt habe …!»
    «Lassen Sie mich nicht fallen, Clayton!»
    «Verstehen Sie das, Wells?», fuhr der Agent ungerührt fort. «Die Lösung ist in Ihrem Kopf! Der Gesandte fürchtet Sie, weil er ahnt, dass Sie der Einzige sind, der die Invasion verhindern kann … verhindern, dass sie überhaupt beginnt! Das müssen Sie tun, Wells! Sie verhindern,
bevor sie anfängt

    Clayton hielt ihn gerade noch an den Fingerspitzen. Aus dem Augenwinkel sah Wells sich den Hauptmann von der anderen Seite am Geländer heranhangeln.
    «Halten Sie durch!» Charles’ Stimme klang jetzt viel näher.
    Durchhalten, ja. Mit einer titanischen Anstrengung versuchte Wells, das tosende Wasser unter sich, den Schmerz in seinem Körper, die Angst, die ihm zuzusetzen begann, als er Jane nirgends erblickte, und vor allem das hysterische Geschrei des Agenten auszublenden und sich ganz auf seine Hand zu konzentrieren, auf seine zarten, zerbrechlichen Schriftstellerfinger, deren natürliches Umfeld die Tasten der Schreibmaschine waren, das harmlose Reich der Federhalter und Tintenfässer, der abgeschabten Lederrücken seiner Bücher, und die sich jetzt einer absurden körperlichen Kraftprobe ausgesetzt sahen, für die sie nicht gemacht waren; die jetzt gegen das unausweichliche Abgleiten von der gesunden Hand des Agenten kämpften, die letzten

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