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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Kräfte mobilisierten, um nicht zu fallen, um mit dem Leben verbunden zu bleiben, um durchzuhalten …
    «Sie müssen durch die Zeit reisen, Wells! Haben Sie verstanden? Sie müssen in eine Zeit reisen, in der Sie dies alles noch verhindern können! Versuchen Sie sich zu erinnern, was sie in dem Farmhaus geträumt haben; an den Albtraum, der Ihre Zeitreise ausgelöst hat, deren Zeuge ich war!», schrie Clayton mit hochrotem Gesicht. «Erinnern Sie sich … und versuchen Sie … noch einmal … durch die Zeit zu reisen!»
    Da hob Wells den Kopf und schaute dem Agenten, dessen Halsmuskeln zum Zerreißen gespannt waren, eine Sekunde lang in die Augen; eine ewige Sekunde, in der Wells erkannte, dass er stürzen würde, dass Clayton ihn loslassen würde, weil das, was er in dessen Augen sah, ein Abschied war und eine stumme Bitte um Verzeihung.
    «Tun Sie es! Sie können es, ich weiß es! Nur Sie können uns retten!» Das waren Claytons letzte Worte, die er hörte.
    Ganz nah erklang jetzt die Stimme von Charles, und Wells sah sogar dessen Hand sich in sein Blickfeld schieben.
    «Geben Sie mir Ihre Hand, Wells!»
    Aber es war zu spät. Clayton sah lächelnd zu Charles, und in diesem Augenblick spürte Wells die Finger des Agenten erschlaffen, ihn fahrenlassen, in die tosenden Wasser stürzen lassen. Und während er sich immer noch strampelnd im Fallen an das Nichts zu klammern suchte, fiel Wells wahrscheinlich der Albtraum ein, vielleicht aber auch erst später, als er den brutalen Aufprall auf das Wasser spürte und den Sog des Strudels, der ihn zur Themse hinabzog oder in das Niemandsland zwischen Gegenwart und Vergangenheit, das die vierte Dimension genannt wird. Er wusste es nicht mehr. Es war alles so verwirrend gewesen, so schwindelerregend, so … unwirklich. Aber er erinnerte sich an den Albtraum, den er auf der Farm gehabt hatte. Es war ein Traum, der ihn in den letzten Jahren schon oft heimgesucht hatte und in dem er in einen bodenlosen Abgrund fiel, in einem endlosen Fall, bei dem er aber das Gefühl gehabt hatte, sich gar nicht von der Stelle zu bewegen. Dieses Gefühl hatte ihn immer beunruhigt; aber das würde es jetzt nicht mehr, dachte er, denn jetzt hatte er begriffen, dass er nicht durch den Raum, sondern durch die Zeit fiel. Er reiste durch die Zeit.
    Er schüttelte den Kopf und musste lächeln, als er daran dachte, wie er sich dagegen gewehrt hatte, an Zeitreisen zu glauben, obwohl Clayton ihm versichert hatte, dass er selbst zugegen gewesen war und ihn sich vier Stunden durch die Zeit hatte bewegen sehen. Und jetzt musste er es glauben: er, Herbert George Wells, Autor des Romans
Die Zeitmaschine
, konnte durch die Zeit reisen dank eines Mechanismus in seinem Gehirn, auf den Clayton gestoßen war und den auch der Gesandte erwähnt hatte; eine Vorrichtung, die offenbar durch ein Übermaß an Anspannung ausgelöst wurde, so wie es in der Farm passiert war. Damals war er aber nur vier unbedeutende Stunden gereist; heute hingegen musste dieser Knopf mit aller Gewalt gedrückt worden sein, da es ihn fast siebzig Jahre in die Vergangenheit geschleudert hatte.
    Immer noch ungläubig den Kopf schüttelnd, warf Wells die Zeitung wieder in den Papierkorb und marschierte wie ein staunender Geist in die unfertige Stadt hinein, versuchte sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er in der Vergangenheit war, mehr als ein halbes Jahrhundert vor der Zeit, die ihm anstand. Wie willenlos lief er durch London und empfand dasselbe faszinierte Staunen, wie es die Zeitreisenden überkam, die Murray ins Jahr 2000 schickte. Verwirrt, aber auch ein wenig beunruhigt, sah er sich in einem London, das er nur aus Geschichtsbüchern und alten Zeitungen kannte, und dieser Zauber wurde noch dadurch verstärkt, dass er ja wusste, wie die Stadt einmal sein würde, was all den Menschen unbekannt war, denen er auf den noch mit schottischem Granit oder mit gebrannten Lehmziegeln gepflasterten Straßen begegnete, auf denen der gesamte Verkehr aus ein paar armseligen, von Maultieren gezogenen Omnibussen bestand. Wells kam es wie Stunden vor, aber er konnte nicht stehen bleiben, musste immer weiter durch die Stadt laufen, denn wenn er seine Situation akzeptierte, das spürte er genau, würde aus der leichten Beunruhigung ein schwer zu ertragender Schrecken, denn so verführerisch es war, sich durch diese unwirkliche Szenerie zu bewegen, so durfte er doch nicht vergessen, dass er in einer Epoche gestrandet war, in der alles ganz anders war

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