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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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als zu seiner Zeit. London bestand nur aus der City und einer Handvoll sie umgebender Stadtteile wie Pimlico, Mayfair, Soho oder Bloomsbury und Lambeth und Southwark auf der anderen Seite des Flusses. Westlich von Hyde Park oder im Süden von Vauxhall war alles noch unbebaut. Chelsea war wenig mehr als ein durch die King’s Road mit der Innenstadt verbundenes Dorf; Wiesen und Felder zogen sich wie ein grünes Meer bis nach Islington, Finsbury Fields und Whitechapel, reichten bis an die alte römische Stadtmauer heran. Von Knightsbridge bis Piccadilly sah er noch Spuren eines ländlichen London, die erst sehr viel später verschwinden würden: bäuerliche Anwesen, Gemüsefelder, Molkereien, Ställe und sogar Mühlen. Es gab noch kein Parlamentsgebäude, kein Britisches Museum, und die Siegessäule von Admiral Nelson ragte noch nicht über dem Trafalgar Square, der nur ein Stück Ödland war, auf dem die Remisen der königlichen Kutschen standen.
    Vom Umherwandern müde geworden, setzte sich Wells auf eine Bank und versuchte sich damit abzufinden, dass das alles kein Bühnenbild war, sondern dass er sich tatsächlich im Jahr 1829 befand, dem Ende der Zeit, hinter dem es nur noch einen bodenlosen Abgrund gab. Das Morgen, aus dem er kam, war noch nicht angebrochen. Er war in einer Zeit gestrandet, in der noch keiner seiner Freunde oder Bekannten geboren war, das war die bittere Wahrheit, und ohne zu wissen, wie er in seine Zeit zurückreisen konnte oder ob so etwas überhaupt machbar war. Ein Zustand der Erregung hatte seine Zeitreise ermöglicht, schien der dafür benötigte Kraftstoff zu sein, doch er war längst nicht sicher, ob er sich in ihn zurückversetzen können würde. Und selbst wenn es möglich wäre: Was nützte es ihm, wenn er seinen Bestimmungsort nicht wählen konnte? Er würde die Reise blind antreten und womöglich noch tiefer in die Vergangenheit zurückfallen. Bei diesem Gedanken befiel ihn Panik, denn je weiter er in die Vergangenheit reiste, desto unkenntlicher und feindlicher würde die Welt sein, in der er sich zurechtfinden musste. Besser war es, zu bleiben, wo er sich befand, und zu warten, dass etwas passierte; wenn er auch nicht wusste, was. Aber wie sollte er hier überleben? An wen konnte er sich wenden? Er bezweifelte, dass jemand seine Geschichte glauben würde, es sei denn, er fände einen offenen, unkonventionellen Geist, einen Schriftsteller vielleicht, einen Kollegen. Er suchte sich seine Kenntnisse der zeitgenössischen Literatur in Erinnerung zu rufen. Wenn er nicht irrte, war Byron ein paar Jahre zuvor gestorben, Carroll war noch nicht geboren, Coleridge dürfte schon im Hause Dr. Gillmans wohnen, wo er seine Opiumsucht überwinden wollte, und der junge Charles Dickens hatte gerade Arbeit in einer Anwaltskanzlei gefunden, wo er seinen Traum vom Schriftstellerdasein erst noch reifen lassen musste. Ja, vielleicht würde der zukünftige Autor von
Oliver Twist
ihm helfen können … Wells stieß einen tiefen Seufzer aus, weil er selbst überrascht war, wie schnell er sich damit abgefunden hatte, dort, wo er sich jetzt befand, leben zu müssen.
    Aber was war aus seinen Gefährten geworden? Aus Jane? Er nahm an, dass sie in die Hände der Marsmenschen gefallen waren. Mit einem Mal fühlte er sich, als ob er sie im Stich gelassen, sie wissentlich verraten hätte … Der Gedanke erschütterte ihn und bestärkte ihn in der Ansicht, dass er hätte bei ihnen bleiben müssen, siebzig Jahre später, dasselbe Schicksal erleiden müssen wie sie. Aber das hatte er nicht, und unglücklicherweise konnte er sich darüber nicht einmal freuen.
    Wehmütig lächelnd beobachtete Wells das Kommen und Gehen der Leute, die fest daran glaubten, mit den Steinen ihres Tuns die Mauern der Zukunft zu errichten, aber keine Ahnung hatten, dass diese Zukunft längst zusammengebrochen und am Ende war und dass er, der zitternde kleine Mann auf der Bank, dieses Ende miterlebt hatte.
    Mit mitleidigem Wohlwollen betrachtete er die vorübereilenden Menschen, und mit einem Schauder des Entsetzens fiel ihm ein, dass die Kreaturen vom Mars schon lange unter ihnen lebten. Seit wann waren sie schon auf der Erde? Der Gesandte hatte ihnen verraten, dass sie im 16 . Jahrhundert auf die Erde gekommen waren. Seit damals waren sie hier, in Menschengestalt, beobachteten die Erde, warteten auf die Ankunft des Gesandten, damit er zur Invasion des blauen Planeten rufe. Ob einer der Vorübergehenden ein Marsmensch war? Das war

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