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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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natürlich unmöglich herauszufinden, weshalb Wells den bohrenden Blick, den er unwillkürlich aufgesetzt hatte, sofort wieder aufgab. Seine Miene verbitterte sich bei dem Gedanken, dass er schuld an allem war, was in siebzig Jahren passieren würde. Hätte er den Gesandten bloß nicht mit seinem Blut zum Leben erweckt; dann wären dessen Brüder einer nach dem anderen an der unverträglichen Erdatmosphäre gestorben! Aber er hatte es getan. Oder würde es tun, denn noch befand er sich ja im Jahr 1829 . Ja, der Wells, der 1866 zur Welt käme, würde Punkt für Punkt dasselbe tun, was er getan hatte; würde dasselbe schreiben, was er geschrieben hatte, dasselbe durchmachen, was er durchgemacht hatte, würde sich in dieselben Frauen verlieben, und irgendwann würde er eine Spur seines Blutes auf dem Körper des Gesandten hinterlassen und damit die Erde für immer der Verdammnis überantworten. Aber noch war das alles nicht passiert; das hieß, es konnte noch vermieden werden, dachte er plötzlich, begeistert ob der Aussicht, seinen Irrtum ungeschehen machen zu können. Dafür brauchte er nur mit sich selbst zu sprechen und sich den Besuch mit Serviss in der Wunderkammer zu verbieten oder sich gewaltsam daran zu hindern, wenn Argumente nicht ausreichten. Allerdings waren es bis dahin noch neunundsechzig Jahre, und er war jetzt zweiunddreißig; er glaubte nicht, dass er hundert Jahre alt würde, selbst wenn er sich noch so in Form hielt.
    Doch was hatte es dann für einen Sinn gehabt, in dieses absurde 1829 zurückzureisen, wenn er die Invasion gar nicht verhindern konnte? Die Antwort brach so unerwartet über ihn herein, dass er schmerzhaft das Gesicht verzog. Denn in diesem Augenblick fiel ihm ein, dass der Gesandte 1830 auf der Erde gelandet war. Und wie er selbst gesagt hatte, war durch den Absturz des Raumschiffs in der Antarktis seine Mission um siebzig Jahre verzögert worden. Wells erbleichte, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Wie es schien, war diese Zahl in irgendeinem dunklen Winkel seines Gehirns haften geblieben, und als Clayton ihm zugerufen hatte, er müsse «in eine Zeit vor dem Unvermeidlichen» reisen, hatte sein Gedächtnis diese Zahl wieder freigegeben. War er deshalb in diesem Jahr gelandet? Irgendwie musste es ihm gelungen sein, das Ziel zu bestimmen und sich dabei nur um ein paar Monate zu irren. Clayton hatte zwar behauptet, das sei unmöglich, aber genau das hatte er offensichtlich getan: das Ziel seiner Zeitreise bestimmt …, wenn auch ganz unbewusst.
    Fassungslos und aufgewühlt erhob sich Wells von der Bank. Wenn es nicht bloß blinder Zufall gewesen war, der ihn in diese Zeit geführt hatte, dann konnte das nur heißen, dass er versuchen sollte, die Invasion zu verhindern, bevor sie begann; bevor der Gesandte in einem Eisblock nach London gebracht wurde und der 1866 geborene Wells ihn mit einem Tropfen seines Blutes zum Leben erweckte. Und das konnte er nur auf eine einzige Art und Weise tun, indem er nämlich auf der
Annawan
anheuerte und den Gesandten tötete. Als er bei seinem Besuch in der Wunderkammer des Naturgeschichtlichen Museums in den Heften und Zeitungsnotizen geblättert hatte, war er auf diesen Namen des Schiffes gestoßen, das verbrannt und von verkohlten Leichen umgeben auf einer kleinen Insel in der Antarktis entdeckt worden war, nicht weit von dem abgestürzten Raumschiff und dem gefrorenen Leib des Außerirdischen entfernt. Wells wusste nicht, was auf dieser tragischen Expedition passiert war, niemand wusste das; aber alles deutete darauf hin, dass sie Besuch von dem Gesandten bekommen hatte. Wenn er ihn also finden wollte, musste er ganz klar auf dem Schiff anheuern, das am 15 . Oktober 1829 in New York ausgelaufen war; das hieß, in drei Wochen. Ja, das war die beste Möglichkeit, seinen Irrtum zu korrigieren; das einzig Machbare, das ihm einfiel; allerdings auch natürlich das, was ihn mit größtem Schrecken erfüllte.
    Einen Moment lang spielte Wells daher mit dem Gedanken, diesen verrückten Plan einfach zu vergessen und in London zu bleiben. Hier konnte er ein neues Leben beginnen, das zwar – so viel ahnte er wohl – voller Gewissensbisse und Unzufriedenheit, dafür aber sicher sein würde, denn er wusste ja, dass er lange vor der Invasion eines natürlichen Todes sterben würde. Es war eine verlockende Möglichkeit, die er jedoch verwarf, bevor er sie ernsthaft in Erwägung ziehen konnte, da er tief in seinem Innern wusste, dass, falls er nicht ging, sich

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