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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Gilliam Murray ein Held, weil er seine geliebte Emma mit einem Lächeln auf den Lippen in den Tod gehen ließ? Ja, genau wie Richard Adams Locke und all die anderen, die mit ihrer Phantasie viele Menschen gerettet haben, indem sie deren tristes Dasein für Momente ein wenig lebenswerter machten. Und in diese Heldengalerie gehört auch der falsche oder echte Hauptmann Shackleton, der dem sterbenden Charles eine eigene Landkarte des Himmels schenkte, auf der der Sonnenuntergang wieder in den so lange vermissten Farben seiner Kindheit erglühte.

XXXVIII
    Doch über siebzig Jahre, bevor Charles’ Seele ins Nichts entschwebte, erstand aus selbigem eine andere Seele. Und obwohl die Geburt keine Sekunde dauerte, hatte Wells das Gefühl, als würde er von einer unsichtbaren Hand zusammengebaut, die seine Knochen zu einem Skelett verschraubte, dem sie den Kreislauf und die Nervengirlanden hinzufügte, danach eine Handvoll Organe im Knochengerüst verteilte, das Ganze schließlich mit dem Packpapier von Fleisch und Muskeln umwickelte und den letzten Schliff von Haut darüber legte. Und schon fühlte Wells mit einem Schlag die Kälte, Erschöpfung, Übelkeit und andere Leiden wieder, die er schon kannte und die ihn wie ein Anker in die Wirklichkeit hinabzogen. Zugleich stellte er fest, dass er sich unter Wasser befand, in einer schlammigen Brühe, aus der er in nächster Sekunde wie aus einem Sturzbach hinausgeschleudert wurde, dass er durch die Luft segelte und in einem stillen Flussbett landete.
    Als er begriff, dass er von keiner Strömung mehr mitgerissen wurde, versuchte er, mit kräftigen Schwimmzügen an die Oberfläche zu kommen. Nachdem ihm das gelungen war, blickte er verwirrt und nach Luft schnappend um sich und verstand nicht, was passiert war. Nach und nach jedoch, als sein Blick und sein Verstand klarer wurden, kam er zu dem Schluss, dass er von einem Nebenarm der Kanalisation ausgespien worden war. Doch sosehr er mit den Augen die nächste Umgebung absuchte, von seinen Gefährten fand er nicht die geringste Spur. Wo zum Teufel war er gelandet? Er wartete noch ein Weilchen, ob sie vielleicht irgendwo im Fluss auftauchten, aber es war viel zu kalt, und ihm war übel. Brechreiz übermannte ihn, und er entleerte den gesamten Inhalt seines Magens in den Fluten. Danach sah er seine Rolle als Gastgeber der Fische als beendet an und schwamm zitternd und halb ohnmächtig zum nächsten Anleger, wo er sich mit letzter Kraft an Land zog. Er versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Den Marsmenschen war er entkommen, was jedoch kein Grund zum Feiern war, denn es handelte sich zweifellos nur um ein vorübergehendes Entkommen. Sie konnten jeden Moment irgendwo auftauchen und ihn endgültig einfangen. Dann würden sie seinen Schädel öffnen, wie der Gesandte es angekündigt hatte.
    Vor Angst und Erschöpfung keuchend und wie ein Bettler auf dem Anleger hockend, schaute er sich um und wunderte sich, nicht das geringste Zeichen von Zerstörung zu sehen. Wo waren die Spuren der Verwüstung, die die Kampfmaschinen hinterlassen hatten?, fragte er sich, aufmerksam jenen Ausschnitt von London musternd, den er von seinem Platz aus sehen konnte. Das Nichtvorhandensein jedes Anzeichens von Zerstörung war aber nicht das einzige Befremdliche; da war noch mehr. Die meisten Gebäude hier waren zwei oder drei Stockwerke hoch, und er sah nirgends die Tower Bridge. Sie war auch nicht zerstört; es sah eher so aus, als sei sie … noch gar nicht erbaut. Ungläubig ließ er seinen Blick über den Fluss gleiten und stellte fest, dass es nur eine Handvoll Brücken gab – die Waterloo, die Westminster und ein paar andere –, die die Ufer der Themse miteinander verbanden. Und erst jetzt fiel ihm auf, dass die neue London Bridge sich noch im Bau befand, etwa dreißig Meter östlich von der alten. Wells sprang auf und starrte fassungslos auf die schmale, baufällige Konstruktion, die noch in Betrieb war. Auf dem Wasser fuhren Dutzende von Ruderfähren hin und her, und die Themse floss noch an Stränden aus dunklem Kies entlang, an denen kleine Werften rege Betriebsamkeit entfalteten, private Fischgründe eingezäunt waren und Anleger von herrschaftlichen Villen ins Wasser ragten. Wells stieß einen tiefen Seufzer aus. Es sah aus, als wäre die ganze Stadt noch … im Bau begriffen.
    Lange stand er in die Betrachtung jenes unvollständigen London vertieft, bis er zu der Überzeugung kam, dass der Anblick nicht die Absicht hatte, sich vor seinen

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