Die Lange Erde: Roman (German Edition)
auf und ging zum Ufer.
»Sei vorsichtig, Joshua …«
»He, du!« Er ließ den Stein, so fest er konnte, über die Wasseroberfläche hüpfen und sah zufrieden, wie er gegen das rechte Auge des Krokodils prallte. Das Untier drehte sich knurrend im Wasser um.
Dann kam es aus den Fluten herausgeschossen, und zwar aufrecht, auf zwei kräftig aussehenden Hinterbeinen. Das Vieh musste über zehn Meter lang sein. Es sah aus, als wäre ein Amphibienfahrzeug mit großer Geschwindigkeit an Land gekommen. Joshua spürte, wie der Boden unter jedem schweren Schritt des Krokos erbebte. Es kam auf ihn zu, und das sehr schnell.
»Scheiße!« Joshua drehte sich um und rannte davon.
Er erreichte die Deckung eines Wäldchens, drängte sich tief in die feuchten Baumschatten. Das Untier, dem der Zugang von den eng stehenden Bäumen verwehrt wurde, brüllte laut und drehte den riesigen Kopf verdutzt hin und her – dann rannte es fort, am Strand entlang, offensichtlich hinter einer anderen Beute her.
Joshua lehnte sich heftig keuchend an einen Baumstamm. Auf den Bäumen ringsumher und auch auf dem Boden sprossen blühende Pflanzen; abgesehen vom Schatten war das hier ein farbenprächtiger Ort. Überall ertönten Geräusche, Rufe, die durch den Wald hallten, quiekende Schreie aus dem Blätterdach, tieferes Grollen von weiter weg.
»Da hast du ja Glück gehabt mit diesem Super-Krok«, sagte Lobsang. »Dumm, aber vom Glück gesegnet.«
»Wenn es sich jetzt über diese Humanoiden hermacht, ist das meine Schuld. Es waren doch Humanoide, oder, Lobsang?«
»Ja, das würde ich schon sagen. Aber sie haben sich nur teilweise adaptiert – zwei Millionen Jahre reichen einfach nicht aus, um aus einem zweibeinigen Affen eine Robbe zu machen. Diese Humanoiden sind wie Darwins flugunfähige Kormorane …«
Schatten bewegten sich, riesige Schatten. Etwas schob sich vor Joshuas Himmel, eine gewaltige Masse, wie ein Gebäude, das in Bewegung geraten war. Ein Fuß, rund wie der eines Elefanten, setzte donnernd auf – das Bein so dick wie der Stamm einer Eiche und länger, als Joshua groß war. Er spähte um die Ecke, ohne sich aus der Deckung des Baumes zu wagen, und erblickte einen gewaltigen Leib, dessen dicke, runzlige Haut mit alten, kratertiefen Narben wie von Artilleriebeschuss übersät war.
Dann erschien wie aus dem Nichts ein Raubtier, das von entfernt an einen Tyrannosaurus erinnerte, mit massigen Hinterbeinen, kleinen, klauenbewehrten Vorderarmen und einem Schädel wie eine Schrottpresse, das ganze Vieh ungefähr so groß und schnell wie eine Dampflokomotive. Joshua zog sich noch weiter hinter seinen Baum zurück. Der Jäger sprang auf das Riesentier, klappte die gewaltigen Kiefer zusammen und riss ein Stück Fleisch aus ihm heraus, das ungefähr so groß wie Joshuas Oberkörper war. Das große Tier brüllte auf, ein Geräusch wie das Nebelhorn eines weit entfernten Supertankers. Aber es blieb in Bewegung, als handelte es sich bei der Riesenwunde lediglich um einen Flohbiss.
»Lobsang?«
»Ich hab’s gesehen. Ich sehe es. Mittagessen im Jurassic Park.«
»Eher ein kleiner Imbiss«, meinte Joshua. »Haben wir Dinosaurier gefunden, Lobsang?«
»Nein, keine Dinosaurier. Obwohl ich mir schon dachte, dass du diesen Namen verwendest. In diesem Fall hat jedoch eindeutig zu viel Evolution stattgefunden. Einige könnte man als die hoch entwickelten Abkömmlinge von, sagen wir mal, Reptilien aus der Kreidezeit bezeichnen; sie wachsen und gedeihen in einem Bündel von Welten, in denen der Dinokiller-Asteroid nie auf die Erde gefallen ist. Hier gab es wohl einen Dinoküsser, ein sanftes Rendezvous mit dem Tod … Aber ganz so einfach ist es nicht, Joshua. Der Schein trügt. Der riesige Pflanzenfresser, der beinahe auf dich draufgetreten wäre, ist überhaupt kein Reptil, sondern ein Säugetier.«
»Echt?«
»Es war ein Weibchen, eine Art Beuteltier, glaube ich. Mit etwas Glück hättest du ein Junges von der Größe eines Brauereigauls sehen können, das sie in ihrem Beutel mit sich herumträgt. Die Aufnahmen zeige ich dir später. Andererseits war diese Morphologie – richtig große Pflanzenfresser, die von richtig fiesen Fleischfressern gejagt werden – im Zeitalter der Dinosaurier durchaus üblich. Es könnte sich um eine weitere Universalie handeln. Vergiss nie, dass du nicht in die Vergangenheit gereist bist, Joshua, und auch nicht in die Zukunft. Du bist im Baum der Möglichkeiten weit hinaus in die Verästelungen geklettert, auf
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