Die Lange Erde: Roman (German Edition)
einen Planeten, wo dramatische, aber quasizufällige Ausrottungsereignisse regelmäßig einen Teil des Lebensbaumes vernichten und damit Platz für evolutionäre Innovation schaffen. Auf jeder Erde kommt dabei etwas anderes heraus, mal mehr, mal weniger … Du bist jetzt nicht mehr weit vom Lagerfeuer entfernt. Halte aufs Wasser zu.«
Begleitet von lautem Knirschen und Krachen im zertrampelten Unterholz bewegte sich ein neuer Trupp Tiere durch den Wald auf die Flussmündung und das Süßwasser zu. Hinter Baumstämmen erblickte Joshua tief liegende Körper, Hörner, beeindruckend bunte Rückenkämme. Die ausgewachsenen Tiere reichten Joshua bis zur Schulter, die Jungtiere hüpften zwischen den säulenartigen Beinen der Erwachsenen umher. Große Tiere, die jedoch im Vergleich zu dem Riesenfaultier, das er zuvor gesehen hatte, geradezu zwergenhaft aussahen. Sie wollten zum Wasser, also folgte Joshua ihnen, so gut es ging.
Am Waldrand stieß er auf einen kleinen Wasserlauf. Über die sumpfige Ebene des Mündungsdeltas stolzierten und krakeelten riesige Vogelschwärme – oder Schwärme vogelähnlicher Geschöpfe –, die im Schlamm nach Nahrung suchten. Sumpfblumen erstrahlten unter einem tiefblauen Himmel in allen Farben. Joshua glaubte, die gezackten Rücken weiterer Panzerechsen zu erblicken, die durch das tiefere Wasser glitten. Direkt am Ufer versammelten sich die großen Tiere mit den Rückenkämmen zum Trinken.
Nicht weit entfernt aalten sich am Saum eines Strandes mit weißem Sand mehrere zweibeinige Echsen in der Sonne. Kleinere Exemplare flitzten kreuz und quer über den Sand und schubsten sich gelegentlich in die flachen Wellen. In ihrer Verspieltheit erinnerten sie verblüffend an kalifornische Teenager. Dann bemerkte einer der größeren Zweibeiner Joshua und stieß seinen direkten Nachbarn an. Die beiden tauschten mehrere Zischlaute aus, woraufhin der zweite Minidinosaurier sich wieder genüsslich zurücklegte, während der erste sich aufsetzte und Joshua mit putzmunterem Interesse betrachtete.
»Die sind echt drollig, was?«, sagte eine Frauenstimme.
Joshua wirbelte mit wild hämmerndem Herzen herum.
Die Frau war eher klein und stämmig und hatte ihr blondes Haar zu einem rustikalen Knoten nach hinten gebunden. Sie trug eine praktische ärmellose Jacke, die nur aus Taschen bestand. Sie schien ein bisschen älter zu sein als Joshua, vielleicht Anfang dreißig. Ihr Gesicht war quadratisch, ebenmäßig, eher kräftig als hübsch, die Haut von der Sonne tief gebräunt. Sie musterte ihn abschätzig.
»Solange man sie nicht angreift, sind sie ziemlich harmlos«, sagte sie. »Und ziemlich schlau: Sie kennen das Prinzip der Arbeitsteilung und stellen Sachen her, die man als Werkzeuge bezeichnen könnte. Zumindest Grabstöcke, für die Muscheln. Obendrein bauen sie primitive, aber funktionstüchtige Boote und ausgeklügelte Fischfallen. Das setzt Beobachtungsgabe, Deduktion, Denkfähigkeit und Teamarbeit voraus – und das Konzept, heute für ein besseres Morgen zu sorgen …«
Joshua starrte sie an.
Sie lachte. »Meinst du nicht, dass du den Mund jetzt wieder zuklappen kannst?« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
Joshua sah sie an, als handelte es sich um eine tödliche Waffe.
» Ich kenne dich. Du bist Joshua Valienté, stimmt’s? Wusste ich’s doch, dass ich dir früher oder später über den Weg laufe. Die Welten sind das reinste Dorf, was?«
Joshua war wie gelähmt. »Wer bist du?«
»Nenn mich einfach … Sally.«
»Lade sie ins Schiff ein!«, quengelte Lobsangs Stimme in Joshuas Ohr. »Ködere sie! Wir verfügen über eine ausgezeichnete Küche, die an dich leider ein bisschen verschwendet ist, wie ich zugeben muss. Biete ihr Sex! Egal wie, du musst sie auf dieses verdammte Schiff bringen!«
»Lobsang?«, flüsterte Joshua. »Du hast wirklich keinen blassen Schimmer von zwischenmenschlichen Beziehungen.«
Die Antwort klang ein wenig beleidigt. »Ich habe jede Abhandlung über die menschliche Sexualität gelesen, die jemals geschrieben wurde. Außerdem habe ich selbst mal einen Körper besessen. Was glaubst du denn, wo die kleinen Tibeter herkommen? Aber egal, das spielt jetzt keine Rolle. Wir müssen diese junge Frau an Bord bringen. Überleg doch mal! Was hat ein so nettes Mädchen wie sie hier draußen in den Megas zu suchen?«
Damit hatte Lobsang nicht ganz unrecht. Wer sie auch sein mochte – wie war sie hierhergelangt, über eine Million Schritte weit? War sie eine natürliche
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