Die Lange Erde: Roman (German Edition)
unermesslichen leeren Räume rings um sich, nur ein kleines Stück außerhalb der Reichweite seines winzigen Feuerkreises. Unbeschreibliche Möglichkeiten. Dann kletterte er wieder hinauf ins Luftschiff und ließ eine ganze Welt zurück, deren einzigartige Geheimnisse so gut wie unerforscht blieben.
Sie reisten weiter in eine andere Welt und dann wieder in eine andere.
Schließlich, nach fünfzig Tagen, über 1,3 Millionen Welten von zu Hause, schienen Land und Luft zu flirren, der Wald schmolz zusammen, die Welten gaben den Blick auf ein Meer frei, das sich bis zum Horizont erstreckte, schaumbedeckt und glitzernd, mitten im Herzen von Nordamerika.
Ohne das Wechseln zu verlangsamen, lenkte Lobsang das Luftschiff nach Süden, auf der Suche nach festem Boden.
Das Meer blieb in einer Welt nach der anderen unter ihnen, und es wimmelte vor Leben: grüne Algenteppiche, die bleichen Umrisse vermutlicher Korallenriffe, dazu aus den Fluten springende schwimmende Wesen, die Delfine hätten sein können. Vorsichtig entnommene Proben zeigten, dass das Meer salzig war. Was nicht unbedingt heißen musste, dass dieses amerikanische Meer eine Verbindung mit dem größeren Weltenozean hatte. Binnenmeere konnten durch Verdunstung salzig werden. Die Wasserproben, die Lobsang heraufholte, waren voll mit exotischen Algensträngen und Krustentieren – exotisch jedenfalls für einen Spezialisten. Sorgsam archivierte Lobsang die Proben und Bilder.
Schließlich trafen sie in südlicher Richtung auf eine Küste. Lobsang stellte das Wechseln ein, und sie sahen sich eine beliebig ausgewählte Welt dieser letzten Gruppe genauer an. Zuerst trafen sie auf Nebelbänke, dann kurvten große Vogelwesen über dem Wasser, und dann kam das Land selbst, dichter Wald, der sich bis fast hinab zum Ozean ergoss. Lobsang war der Meinung, das höhere Land, dem sie sich näherten, könnte ein ferner Verwandter des Ozark-Plateaus sein.
Von hier aus segelten sie nach Osten, bis sie an ein gewaltiges Tal kamen, das womöglich von einem entfernten Verwandten des Mississippi oder Ohio gegraben worden war. Sie folgten dem Tal nach Norden bis zu einem Mündungstrichter, wo sich der Fluss in das Binnenmeer ergoss. An der trüben Verfärbung, die noch mehrere Meilen vor der Küste sichtbar war, erkannte man deutlich, wo sich Süßwasser mit dem salzigen Ozean vermischte.
Und hier, unter freiem Himmel, an den Ufern des Süßwasserflusses, kamen die Tiere zur Tränke. Während sie weiter hin und her kreuzten und dabei erneut durch die Welten wechselten, erblickte Joshua ganze Herden erstaunlicher Tiere, die gleich darauf wieder im Nichts verschwanden. Vierbeiner und Zweibeiner, Tiere, die beinahe Elefanten hätten sein können, andere, die wie flugunfähige Vögel aussahen, und kleinere Geschöpfe, die zu ihren Füßen umherrannten. Ein kurzer Blick von wenigen Sekunden, dann folgte die nächste außergewöhnliche, unheimliche Szenerie und dann die nächste.
»Wie ein Ray-Harryhausen-Demoband«, sagte Lobsang.
»Wer ist Ray Harryhausen?«, fragte Joshua. »Und was ist ein Demoband?«
»Heute Abend sehen wir uns die Originalversion des Films Jason und die Argonauten an, gefolgt von einem weiterführenden Gespräch. Nicht versäumen! Aber – was für ein Fund, Joshua! Ich meine dieses amerikanische Meer. So viel Küste. Ein Ort wie geschaffen für Kolonisten! Dieses Nordamerika hat ein zweites Mittelmeer, das wie jedes solche Binnenmeer Wohlstand und kulturelle Vernetzung verheißt. Was das Potenzial für eine Besiedlung angeht, stellt es den Maisgürtel weit in den Schatten. Das hier könnte wirklich der Mittelpunkt einer völlig neuen Zivilisation werden. Ganz zu schweigen von den touristischen Möglichkeiten. Jede einzelne dieser Welten … Dabei sind wir bereits durch Hunderte von ihnen gesegelt.«
»Vielleicht nennen sie es ja den ›Lobsang-Gürtel‹«, erwiderte Joshua trocken.
Falls Lobsang den Witz verstanden hatte, ließ er es sich nicht anmerken.
Wieder eine Nacht, in der Joshua völlig ruhig schlief.
Als er am nächsten Morgen erwachte, zeigte der Bildschirm in seinem Zimmer etwas, was wie die Nahaufnahme eines Lagerfeuers aussah.
Joshua sprang aus dem Bett. Als er sich gerade die Hose hochzog, platzte Lobsang herein. Irgendwann musste er Lobsang die Bedeutung des Wörtchens anklopfen beibringen.
Lobsang lächelte. »Guten Morgen, Joshua. Was für ein verheißungsvoller Tag!«
»Ja, ja.« Joshua hatte heute keine Lust auf Lobsangs Unsinn. Die
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