Die Lange Erde: Roman (German Edition)
»Ja. Na schön. Ich hatte nicht die Absicht, etwas vor euch zu verbergen. Es ist nur besser, wenn ihr von selbst darauf kommt. Ja, ich mache mir Sorgen wegen der Migration. Es ist diese große Unruhe, die sich durch die gesamte Lange Erde zieht. Und ja, ich glaube nicht, dass ich dieser Sache allein auf den Grund gehen kann – oder sollte. Aber irgendjemand muss es tun.«
»Dann haben wir das gleiche Ziel«, sagte Lobsang.
»Jetzt komm schon, Sally, raus mit der Sprache«, drängte Joshua weiter. »Es wird Zeit für ein ehrliches Tauschgeschäft. Wir helfen dir, aber du musst auch ehrlich uns gegenüber sein. Du wusstest, dass es diesen Ort hier gibt, und du wusstest, wie man ihn findet. Wieso? Und wie bist du überhaupt so weit bis hierher gekommen?«
Sally setzte eine argwöhnische Miene auf. »Kann ich euch beiden vertrauen? Ich meine, wirklich vertrauen?«
»Ja«, antwortete Joshua.
»Nein«, antwortete Lobsang. »Alles, was du mir erzählst, werde ich nach Gutdünken benutzen, sofern es sich für die Verbesserung der Lage der Menschheit im Allgemeinen verwenden lässt. Ich werde jedoch nichts tun, was dir oder deiner Familie Schaden zufügen könnte. In dieser Hinsicht kannst du mir vertrauen. Du weißt etwas bezüglich der Vernetzung der Langen Erde, das wir nicht wissen, hab ich recht?«
Ein Pärchen ging Hand in Hand vorüber; sie sah schwedisch aus, er war beinahe mitternachtsschwarz.
Sally holte tief Luft. »Meine Familie nennt sie die weichen Stellen.«
»Die weichen Stellen?«, fragte Joshua.
»Abkürzungen. Sie befinden sich normalerweise, aber nicht immer, tief im Binnenland, im Herzen eines Kontinents. In der Regel findet man sie in der Nähe von Wasser, und in der Dämmerung werden sie stärker. Ich kann nicht genau beschreiben, wie sie aussehen oder wie man sie findet. Es ist alles eher ein Gefühl als sonst etwas.«
»Ich glaube nicht, dass ich verstehe, was …«
»Es sind Orte, die es einem erlauben, sehr schnell durch eine Vielzahl von Welten zugleich zu reisen.«
»Siebenmeilenstiefel …«
Lobsang murmelte: »Vermutlich wäre Wurmlöcher eine bessere Metapher dafür.«
»Aber sie verlagern sich«, sagte Sally. »Sie öffnen und schließen sich. Man muss die richtige Methode finden und sie befolgen … Jemand muss einem zeigen, wonach man suchen muss. Aber man kann es letztendlich nicht lernen, es ist eher etwas, woran man sich erinnert, etwas, was einem vor langer Zeit beigebracht wurde, und das, sobald man es braucht, plötzlich wieder da ist. Es ist nicht so wie das Stottern der Wechsler. Es ist eher wie, na ja, wie eine hilfreich dargebotene Hand. Es ist irgendwie organisch, wisst ihr? So wie für Seeleute, die die Strömungen des Meeres kennen, Ebbe und Flut, Wind und Gezeiten, sogar den Salzgehalt des Wassers. Und sie verschieben sich oft, öffnen sich und schließen sich wieder oder verbinden sich mit einem anderen Ort. Am Anfang ist es Versuch und Irrtum, aber in letzter Zeit kann ich, wenn die Strömungen günstig sind, mit drei oder vier Schritten jedes beliebige Ziel erreichen.«
Joshua versuchte, sich das vorzustellen. Er sah die Lange Erde vor sich wie eine Röhre von Welten, einen langen Schlauch, durch den er von einer Welt zur anderen sprang. Diese weichen Stellen waren – was denn nun? Löcher in der Röhrenwand, die es einem erlaubten, Abkürzungen zu nehmen, gewaltige Folgen möglicher Erden zu überspringen? Oder waren sie eher wie ein U-Bahn-Netz, das unsichtbar unter den Straßen der Stadt verläuft und einen Punkt mit dem anderen verbindet, ein Netzwerk mit eigener Topologie, unabhängig davon, was sich an der Oberfläche abspielt? Und in diesem Netzwerk gab es wiederum Knoten, Umsteigepunkte …
»Wie funktionieren sie?«, fragte Lobsang unverblümt. »Deine weichen Stellen?«
»Woher soll ich das wissen? Mein Vater hatte eine Hypothese, was die Struktur der Langen Erde angeht. Er hat von Solenoiden gesprochen, chaotischen mathematischen Strukturen. Frag mich nicht. Falls ich ihn jemals finde …«
»Wie viele Leute, die du kennst, verfügen über dieses Talent?«
Sie zuckte die Achseln. »Nicht einmal alle in meiner eigenen Familie. Ich weiß aber, dass es dort draußen noch andere gibt; ab und zu treffe ich einen. Letztendlich kann ich nur sagen, dass ich eine weiche Stelle erkenne, wenn ich darauf stoße, und dann habe ich meistens auch eine gute Vorstellung davon, wie weit sie reicht und in welche Richtung sie geht. Mein Großvater
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