Die Lange Erde: Roman (German Edition)
ihm dabei helfen sollten, alles Mögliche zu identifizieren; außerdem hatte er sich bei Schwester Serendipity erkundigt, die sich mit Kochen in allen Zeitaltern sehr gut auskannte. Bald war ihm klar geworden, dass man sich ziemlich dämlich anstellen musste, wenn man hier draußen verhungern wollte. Es gab Beeren, Pilze, Eicheln, Walnüsse und Rohrkolben, große grüne Schilfpflanzen mit kohlenhydratreichen Wurzeln. Es gab Pflanzen, die man nutzen konnte, wenn man krank war – sogar wildes Chinin. Die Seen waren fischreich, Fallen ließen sich einfach bauen. Er hatte es ein- oder zweimal auch mit der Jagd versucht. Kaninchen gingen ganz gut, aber mit größerem Wild wie Weißwedelhirschen oder Rothirschen und Elchen würde er noch warten müssen, bis er älter war. Sogar wilden Truthähnen musste man ordentlich hinterherrennen. Aber warum sollte man sich die Mühe machen, wenn es Wandertauben gab, die so dumm waren, still sitzen zu bleiben und abzuwarten, bis man kam und ihnen eins auf den Schädel gab? Alle Tiere, sogar die Fische, wirkten so unschuldig. Ohne jeden Argwohn. Joshua hatte sich angewöhnt, seiner Beute dafür zu danken, dass sie ihr Leben für ihn gegeben hatten; erst später las er, dass die indianischen Jäger ihrer Beute auf die gleiche Weise begegnet waren.
Man musste vorsorgen. Man nahm Streichhölzer oder eine Stufenlinse zum Feuermachen mit; er hatte sich beigebracht, wie man sich im Notfall einen Feuerbogen bastelte, aber die Prozedur war für den Alltagsgebrauch zu nervig. Er hatte sich bei Clean Sweep, einer Regierungsstelle für Haushaltschemikalien und Umweltschutz in der Badger Road kostenlosen Mückenschutz geholt, auch Haushaltsbleiche zur Aufbereitung von Wasser.
Selbstverständlich wollte man nicht selbst zum Opfer werden – nur wovon? Es gab Tiere, die einen reißen konnten, das schon: Luchse etwa, eine Katzenart so groß wie Hunde, die einen anstarrten, sich dann aber lieber aus dem Staub und auf die Suche nach leichterer Beute machten. Pumas, groß wie Schäferhunde und mit absolut archetypischen Katzengesichtern. Einmal hatte er gesehen, wie ein Puma ein Reh riss. Er war ihm auf den Rücken gesprungen und hatte ihm die Halsschlagader durchgebissen. Weiter draußen hatte er Wölfe und noch exotischere Tiere gesehen – etwas, das wie ein riesenhafter Biber aussah, und ein plumpes, ziemlich dummes Faultier, über das er lachen musste. Er vermutete, dass alle diese Tiere früher einmal, bevor der Mensch aufgetaucht war, in Datum-Madison gelebt hatten, aber inzwischen waren die meisten ausgestorben. Keines dieser Lebewesen in den Wechselwelten hatte je zuvor einen Menschen gesehen, und sogar die gefährlichsten unter ihnen schienen sich vor dem Unbekannten lieber in Acht zu nehmen. Im Grunde genommen stellten die Moskitos ein größeres Problem dar als Wölfe.
In jenen ersten Tagen war Joshua nie lange geblieben, immer nur höchstens ein paar Nächte. Perverserweise wünschte er sich manchmal, seine Fähigkeit zu wechseln würde sich plötzlich ausschalten, sodass er dort draußen festsaß und zusehen musste, wie er überlebte. Wenn er zurückkam, fragte ihn Schwester Agnes immer: »Fühlst du dich da draußen nicht einsam? Hast du keine Angst?« Aber es war ihm nie einsam genug gewesen. Und wovor sollte er groß Angst haben? Ebenso gut hätte man von jemandem, der die große Zehe ins Wasser des Pazifik streckte, verlangen können, dass er sich vor dem großen weiten Ozean fürchtete.
Abgesehen davon konnte man sich in den Nahen Erden schon bald kaum mehr rühren vor lauter Ausflüglern, die sich, wenn schon überall davon geredet wurde, einfach mal umsehen wollten. Leute mit gestähltem Blick, die – zumindest einige von ihnen – mit hochprofessionellen Wandershorts und zielstrebigen Knien über das neue Territorium schritten oder sich doch zumindest im Unterholz verhedderten. Leute mit Fragen wie: »Wem gehört das ganze Land eigentlich? Sind wir noch in Wisconsin? Ist das überhaupt noch unser Amerika?«
Am schlimmsten waren diejenigen, die vor dem Zorn Gottes flohen oder ihn vielleicht sogar suchten. Von der Sorte gab es mehr als genug. War die Lange Erde ein Zeichen für das Ende aller Tage? Ein Hinweis auf die bevorstehende Vernichtung der alten Welt und zugleich eine neue Welt, die für die Auserwählten bereitstand? Viel zu viele Menschen wollten zu den Auserwählten gehören, und viel zu viele glaubten, dass Gott in diesen paradiesischen Welten schon für sie sorgen
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