Die Lange Erde: Roman (German Edition)
Flug erwischte, denn unterwegs habe jede rote Ampel auf Grün geschaltet, bevor sie bremsen musste. (Wenn Schwester Agnes überhaupt jemals bremste.) Joshua hingegen vermutete, dass weniger die Hand Gottes als Lobsangs Unterprogramme dafür verantwortlich waren.
Joshua hatte sich in zahllosen Varianten der Erde aufgehalten, aber er war noch nie geflogen. Schwester Agnes kannte sich damit aus und brachte ihn bis zum Abflugschalter. Sobald der Angestellte Joshuas Buchung eingegeben hatte, wurde er sehr still und griff zum Telefon. Als Joshua aus der Schlange der Passagiere gebeten und mit einer Höflichkeit, wie man sie sonst nur Politikern eines Landes mit Atomwaffenprogramm und einer gewissen Sorglosigkeit hinsichtlich ihres Einsatzes entgegenbrachte, durch lange Korridore geführt wurde, dämmerte ihm, was es bedeutete, Lobsang zum Freund zu haben.
Man brachte ihn in einen Raum mit einer Bar von der Länge des Burger-Tresens in Disney World. So eindrucksvoll das auch sein mochte, Joshua trank nur sehr selten und hätte tatsächlich lieber einen Burger gehabt. Als er das dem jungen Mann gegenüber, der vor nervöser Aufmerksamkeit förmlich um ihn herumtänzelte, scherzhaft erwähnte, bekam er nach wenigen Minuten einen perfekten Burger serviert, der so großzügig mit allem Schnickschnack belegt war, dass die Frikadelle beinahe überflüssig war. Joshua war noch mit Verdauen beschäftigt, als der junge Mann erneut auftauchte und ihn zum Flugzeug führte.
Sein Platz war gleich hinter dem Cockpit, von den anderen Passagieren diskret durch einen Samtvorhang abgetrennt. Niemand hatte seinen Pass sehen wollen, den er ohnehin nicht dabeihatte. Niemand kontrollierte, ob er Sprengstoff in den Schuhen hatte. Und sobald er an Bord war, sprach auch niemand mehr mit ihm. Er schaute sich in aller Ruhe eine Zusammenfassung der Nachrichten an.
Am Flughafen Chicago O’Hare wurde er zu einem anderen Flugzeug gebracht, einer erstaunlich kleinen Maschine, die ein Stück abseits vom Hauptterminal wartete. Drinnen war alles, was nicht mit Leder gepolstert war, mit Teppich ausgelegt, und was nicht mit Lederpolstern oder Teppichen ausgestattet war, schien aus den blendend weißen Zähnen einer jungen Frau zu bestehen, die ihm, sobald er sich hingesetzt hatte, eine Cola und ein Handy reichte. Er schob seine kleine Reisetasche unter den Sitz vor ihm, wo er sie sehen konnte. Dann machte er das Handy an.
Lobsang rief sofort an. »Schön, dich an Bord zu haben, Joshua! Wie gefällt dir die Reise bis jetzt? Das Flugzeug ist heute nur für dich da. Im hinteren Teil findest du ein Schlafzimmer, das, wie ich mir habe sagen lassen, sehr komfortabel sein soll. Auch die Dusche kannst du jederzeit benutzen.«
»Dauert der Flug sehr lange?«
»Wir treffen uns in Sibirien, Joshua. Dort betreibt die Black Corporation etwas, das man als Skunk Works bezeichnet. Weißt du, was das heißt?«
»Eine Anlage, die niemand auf dem Radar hat.« Und in der, fragte er sich sofort, was hergestellt wurde?
»Genau. Hatte ich Sibirien nicht erwähnt?«
Man hörte die Motoren starten.
»Du hast übrigens einen menschlichen Piloten. Die meisten Leute scheinen einen warmen uniformierten Körper am Steuer vorzuziehen. Aber keine Sorge. Letztendlich bin ich das Cockpit.«
Joshua ließ sich in seinem Luxussitz zurücksinken und ordnete seine Gedanken. Er fand, dass Lobsang ziemlich von sich eingenommen war, wie es die Schwestern ausgedrückt hätten; andererseits gab es wohl auch ziemlich viel, von dem er eingenommen sein konnte. Jetzt saß er hier gewissermaßen in einem Lobsang-Kokon. Joshua hatte mit Computern und der wundersamen vernetzten elektronischen Gesellschaft, deren Bestandteil sie waren, nicht besonders viel am Hut. Draußen in den Wechselwelten gab es nicht einmal Handy-Empfang, man war völlig auf sich allein gestellt. Es zählte nur, was man wusste und was man konnte. Mit seinem Lieblingsmesser aus gehärtetem Glas konnte er dafür sorgen, dass er am Leben blieb, ganz egal was sich ihm in den Weg stellte. Joshua mochte diese Vorstellung. Vielleicht würde es zwischen ihm und Lobsang deswegen noch Spannungen geben – zumindest mit dem Teil von Lobsang, der ihn auf der Fahrt begleitete.
Das Flugzeug hob ab und machte dabei ungefähr so viel Krach wie Schwester Agnes’ Nähmaschine im Nebenzimmer. Während des Flugs sah sich Joshua die erste Episode von Star Wars an, nippte an einem Gin Tonic und versank in nostalgischen Jungsgefühlen. Dann
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