Die Lange Erde: Roman (German Edition)
verfehlte die Baustelle nicht. Das wäre auch unmöglich gewesen. Hier war hektarweise Nadelwald gerodet worden, und über einer riesigen kreisförmigen Lichtung thronte etwas, was wie ein schwebendes Gebäude aussah. Ja, es schwebte. Durch den Regen erkannte er lange Halteseile. Ein gewaltiger fliegender Wal. Der noch nicht vollständig aufgepumpte Körper war ein riesiger, mit transEarth-Logos bepflasterter Sack aus irgendeiner gehärteten Faser über einer Gondel, die einem Art-déco-Fantasyroman entsprungen schien. Sie besaß mehrere Decks übereinander und war ein Traum aus poliertem Holz, Bullaugen und Glasscheiben.
Ein Luftschiff!
Noch während er nach oben starrte, kam ein anderer Arbeiter, der mit einem Telefon herumfuchtelte, auf ihn zugeeilt. »Sind Sie Joshua?« Dieser Mann hörte sich wie ein Europäer an, vielleicht ein Belgier. »Schön, dass Sie hier sind, freut mich sehr! Kommen Sie mit. Soll ich Ihnen mit dem Gepäck helfen?«
Joshua riss seine Tasche so eilig an sich, dass der Tragegriff beinahe die Hand des Mannes verbrannt hätte.
Der Arbeiter wich einen Schritt zurück. »Entschuldigung, tut mir leid. Natürlich können Sie es auch selbst tragen, wenn Sie wollen. In Ihrem Fall ist Sicherheit kein Problem. Kommen Sie.«
Joshua folgte ihm über den aufgeweichten Boden bis unter die formlose Hülle. Die Gondel, die dem Rumpf eines hölzernen Schiffes nachempfunden war, schien an einem Metallgerüst verankert zu sein, das aus vor Ort hergestelltem Stahl bestehen musste. Am Fuß des Gerüsts stand ein sehr spartanischer Bauaufzug. Der Mann betrat vorsichtig den offenen Käfig und drückte, sobald Joshua neben ihm stand, auf einen Knopf.
Im Nu hatten sie die Unterseite der Gondel erreicht, dann passierten sie eine Luke und waren vor dem Regen geschützt. Joshua fand sich in einem kleinen Raum wieder, in dem es kräftig nach poliertem Holz roch. Es gab Fenster – besser gesagt: Bullaugen – durch die aber momentan nur das Wetter draußen zu sehen war.
»Schade, dass ich nicht mitkommen kann, junger Mann«, sagte der Arbeiter froh gelaunt. »Egal wohin einen dieses Ding bringt. Von uns hier weiß natürlich niemand, wohin die Reise geht. Werfen Sie bei Gelegenheit mal einen Blick auf die Technik. Natürlich alles ohne Eisen, der Rahmen aus Aluminium … Na ja, wir sind alle mächtig stolz darauf. Bon voyage, genießen Sie die Reise!« Er stieg wieder in den Fahrstuhl, und während er nach unten verschwand, schob sich eine Platte über das Loch und versiegelte den glänzenden Boden.
Lobsangs Stimme ertönte: »Noch einmal herzlich willkommen an Bord, Joshua. Was für ein grässliches Wetter! Aber das spielt keine Rolle. Ich sorge dafür, dass wir ihm schon bald entschweben, oder besser gesagt, uns davon entfernen.«
Ein kurzer Ruck, der Fußboden schaukelte sanft. »Wir haben uns vom Gerüst gelöst. Fliegen wir bereits?«
»Wir hätten Sie nicht hierher geholt, wenn wir nicht reisefertig gewesen wären. Das Lager unter uns wird bereits abgebaut, und schon bald sieht es hier aus wie nach einem etwas bescheideneren Tunguska-Ereignis.«
»Sicherheitsvorkehrungen, nehme ich an.«
»Selbstverständlich. Bei den Arbeitern handelt es sich um einen sehr gemischten Haufen: Russen, Amerikaner, Europäer, Chinesen. Keiner von ihnen gehört zu der Sorte, die gerne mit den Behörden plaudert. Kluge Leute, die schon für viele Herren gearbeitet haben, ungemein nützlich und lobenswert vergesslich.«
»Wer hat das Flugzeug zur Verfügung gestellt?«
»Ah. Hat dir der Flug im Lear gefallen? Er gehört einer Holding, die ihn gelegentlich einer bestimmten Rocksängerin leiht. Sie dürfte heute Abend ein wenig verstimmt sein, weil der Jet wegen notwendiger technischer Wartungen nicht zur Verfügung steht. Aber sie wird schon bald auf andere Gedanken kommen, wenn sie hört, dass ihr neuestes Album seit gestern Abend in den Charts zwei Plätze nach oben geklettert ist. Lobsangs Einfluss reicht weit. Aber jetzt, da wir unterwegs sind …«
Fast geräuschlos öffnete sich eine Tür nach innen und gab den Blick auf einen holzgetäfelten, von raffinierten Lampen erleuchteten Korridor frei, der zu einer blauen Tür am anderen Ende führte.
»Willkommen auf der Mark Twain. Fühl dich wie zu Hause. Auf diesem Flur findest du sechs vollkommen identisch ausgestattete Kabinen. Such dir eine aus. Deine Wintersachen kannst du ablegen. Und beachte bitte die blaue Tür. Sie führt zu Labor, Werkstatt und
Weitere Kostenlose Bücher