Die Lange Erde: Roman (German Edition)
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»Das kenne ich natürlich. Die heilige Zeit so ruhig wie eine Nonne in Andacht. Sehr passend! Hauen wir uns jetzt auch noch Gedichtzeilen um die Ohren, Joshua?«
»Halt die Klappe und box weiter, Lobsang.«
23
A ls sie fertig waren, ging auf allen Welten die Sonne unter.
Joshua duschte und dachte dabei über die vielen Bedeutungen und Verwendungen des Wortes »eigen« nach. Wie ein Dampfschiffkapitän aus dem 19. Jahrhundert gegen einen künstlichen Menschen zu boxen, während unter einem eine Welt nach der anderen vorüberflackerte. Konnte sein Leben noch eigenartiger werden? Wahrscheinlich ja, dachte er resigniert.
Inzwischen wurde ihm Lobsang immer sympathischer, obwohl er nicht hätte sagen können, warum. Ebenso wenig war er sich darüber im Klaren, was Lobsang eigentlich war. Auf jeden Fall war er eigen. Andererseits bezeichneten andere Leute Joshua selbst auch gelegentlich als eigen – und Schlimmeres.
Er trocknete sich ab und zog frische Unterwäsche an. Auf dem T-Shirt stand der Spruch: »Halb so wild! Auf einer anderen Erde ist es längst passiert.« Dann begab er sich wieder aufs Salondeck. Die leeren Kabinen, an denen er vorbeiging, störten ihn, weil sie die Mark Twain zu einer Art Geisterschiff machten, wobei er selbst der erste und womöglich auch der letzte Geist an Bord war.
Er ging in die Kombüse. Dort stand Lobsang in einem farblosen Overall, reglos wie eine Statue. »Abendessen, Joshua? Einer vorläufigen kladistischen Analyse zufolge ist dein Lachs streng genommen eigentlich kein Lachs, aber doch Lachs genug, um gegrillt zu werden. Entsprechende Gewürze sind reichlich vorhanden. Wir haben auch Spezereien, von denen du garantiert noch nie gehört hast.«
»Spezereien sind die Zutaten, die den Hauptbestandteil einer Mahlzeit ergänzen und die üblicherweise in der unmittelbaren geografischen Nachbarschaft besagter Zutaten zu finden sind. Beispielsweise Meerrettich in Gegenden, wo es viel Rindfleisch gibt. Ich bin beeindruckt, Lobsang.«
Zufrieden bemerkte er Lobsangs Überraschung. »Also, was das angeht, bin ich nicht minder beeindruckt, wenn man in Betracht zieht, dass ich Zugang zu jedem jemals veröffentlichten Lexikon habe. Darf ich fragen, wie du zu einem derartig archaischen Wort kommst?«
»Schwester Serendipity ist eine wahre Expertin, was die Kochkunst im Laufe der Zeiten angeht. Insbesondere hat sie es mit einem Buch namens Englische Küche von einer Dame namens Dorothy Hartley . Mit so etwas kennt sich Serendipity hervorragend aus, sie kann aus so gut wie allem eine hervorragende Mahlzeit zaubern. Du solltest mal ihr Fondue aus Überfahrenem vom Straßenrand probieren, das kommt immer hervorragend an. Sie hat mir sehr viel beigebracht, was das Leben in der freien Natur angeht.«
»Bemerkenswert, dass sich eine Frau mit solchen Fähigkeiten unglücklichen jungen Menschen widmet. Was für eine Hingabe.«
Joshua nickte. »Ja, einerseits schon. Vielleicht hat es aber auch damit zu tun, dass sie vom FBI gesucht wird, weshalb sie nicht so oft rausgeht und lieber im Keller schläft. Schwester Agnes hat gesagt, die ganze Sache sei ein Riesenmissverständnis gewesen, und die Kugel hätte den Senator sowieso meilenweit verfehlt. Aber darüber wird eigentlich so gut wie nie geredet.«
Lobsang fing an, auf dem Deck auf und ab zu marschieren. Wenn er ein Schott erreicht hatte, machte er elegant kehrt und ging dann gleichmäßigen Schrittes wieder zurück, wie ein Wachtposten.
Joshua machte sich daran, den Lachs zuzubereiten, aber das unaufhörliche Schreiten und das Knarren der Dielen ging ihm schon bald auf die Nerven. Als Lobsang zum zwölften Mal an ihm vorüberkam, sagte er: »Weißt du, dass Kapitän Ahab das auch immer gemacht hat? Und du weißt ja, wie es dem ergangen ist. Was spukt dir denn im Kopf herum, Lobsang?«
»Mir? Im Kopf? So gut wie alles! Obwohl ich zugeben muss, dass ein wenig körperliche Bewegung wie unser kleines Boxtraining wirklich wahre Wunder für den Denkprozess bewirkt. Eine sehr menschliche Feststellung, findest du nicht?« Er ging weiter nachdenklich auf und ab.
Schließlich brutzelte der Pseudolachs vor sich hin, auch wenn Joshua immer noch ein Auge darauf haben musste.
Endlich hörte Lobsang mit seiner Marschiererei auf. »Du kannst dich sehr gut konzentrieren, stimmt’s, Joshua? Du kannst Ablenkungen einfach ignorieren. Eine sehr nützliche Eigenschaft, außerdem sorgt sie für eine gewisse innere Ruhe.«
Joshua gab ihm keine Antwort.
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