Die Lange Erde: Roman (German Edition)
Exkursion also. Vielleicht ist es an der Zeit für eine Einsatznachbesprechung. Hast du wirklich gedacht, ich würde dich einer Gefahr aussetzen? Das würde ich nie tun, das musst du mir glauben. Außerdem läge das nicht in meinem Interesse.«
»Du weißt ganz schön viel darüber, was uns so alles begegnen könnte, sogar noch ehe wir ihm begegnet sind. Du hättest mich vorwarnen können.«
»Ja. Da muss ich dir recht geben. An unserer Kommunikation müssen wir noch arbeiten. Andererseits hat unsere epische Reise noch nicht einmal richtig angefangen. Wir kennen uns noch kaum. Was hältst du von ein bisschen Zeit für uns?«
Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als stumpf geradeaus zu starren. Zeit für uns, hatte dieser künstliche Mensch gesagt! Natürlich kannte Joshua diesen Ausdruck, wenn auch nur daher, weil Schwester Agnes jedes Mal, wenn er ihr zu Ohren kam, fuchsteufelswild wurde. Was diese Wutausbrüche anging, so waren sie nur höchst selten explosiv und ungestüm: Dabei wurden nur wenige Schimpfwörter ausgestoßen – abgesehen von »Republikaner«, was für Schwester Agnes als besonders schlimmes Schimpfwort galt –, und es wurden auch keine Gegenstände geworfen, zumindest nicht sehr fest und auch nichts, mit dem man jemanden ernsthaft verletzen konnte. Aber Ausdrücke wie »die Seele baumeln lassen« und »Zeit für uns« ließen sie regelmäßig an die Decke gehen. »Was für eine nebulöse Sprache! Damit wird der ganze Wortschatz so verwässert, bis jedes Wort alles Mögliche bedeuten kann, was man halt gerade so sagen will, bis am Ende überhaupt nichts mehr irgendwas bedeutet und überhaupt nichts mehr präzise ist!« Er erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem jemand im Fernsehen den fatalen Ausdruck »querdenken« benutzt hatte. Einige Kinder brachten sich in Erwartung der Explosion sofort in Sicherheit.
Zeit für uns , mit Lobsang.
Joshua sah der Einheit ins simulierte Gesicht. Es sah eigenartig erschöpft aus, vielleicht auch gestresst, sofern sich der Gesichtsausdruck überhaupt interpretieren ließ. »Schläfst du überhaupt jemals, Lobsang?«
Jetzt nahm das Gesicht einen beleidigten Ausdruck an. »Alle meine Komponenten verfügen über einen Erholungszyklus, bei Bedarf nehmen mir die sekundären Systeme die Last der Verantwortung ab. Das könnte man wohl als Schlafen bezeichnen. Ich sehe, dass du die Stirn runzelst. Reicht dir diese Antwort nicht aus?«
Joshua war sich all der unterschwelligen Geräusche des Schiffes bewusst, seines organischen Knarrens und Stöhnens, des Summens seiner Untersysteme – das war der unablässig im Einsatz befindliche Lobsang. Wie sich dieser Grad ständiger Wachheit wohl anfühlte? So als müsste Joshua jeden einzelnen seiner Atemzüge kontrollieren oder jeden einzelnen seiner Herzschläge regulieren? Lobsang kontrollierte zweifellos das Wechseln, da es sich dabei um einen bewussten Vorgang handelte. »Gibt es irgendetwas, was dich besonders beunruhigt, Lobsang?«
Das Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Aber selbstverständlich. Mich beunruhigt alles, ganz besonders die Dinge, die ich nicht kenne und nicht unter Kontrolle halten kann. Schließlich ist es meine Aufgabe, mein Daseinszweck, alles zu wissen. Um meine geistige Gesundheit ist es jedoch optimal bestellt. Ich glaube, so viel muss gesagt werden. Ich weiß zwar nicht, wo ich ein ›Fahrrad für zwei‹ auftreiben sollte, aber ich bin sicher, dass ich in wenigen Stunden ein ziemlich schnittiges Tandem fabrizieren könnte … Du hast keine Ahnung, wovon ich rede, stimmt’s? Heute Abend probieren wir im Saal die Kino-Variante aus, und zwar mit 2001 als Hauptfilm. Wir müssen deine Ausbildung vervollständigen, Joshua.«
»Wenn ich vorübergehend akzeptiere, dass du menschlich bist, mit menschlichen Schwächen, wäre es dann möglich, dass du gestresst bist? Wenn ja, würde es dir bestimmt guttun, mal ab und zu aus dir herauszugehen. Von mir aus können wir ›Zeit für uns‹ miteinander verbringen. Aber verrate Schwester Agnes bloß nicht, dass ich das gesagt habe.« Ein bizarrer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. »Kannst du kämpfen?«
»Joshua, ich könnte ganze Landstriche in Schutt und Asche legen.«
»Nein, nein. Ich meinte mit den Händen, Mann gegen Mann.«
»Das musst du mir genauer erklären.«
»Ein bisschen Boxtraining von Zeit zu Zeit würde dir guttun. Zu Hause haben ein paar von uns Jungs immer geboxt, nur um in Übung zu bleiben, du weißt schon, für die
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