Die Lange Erde: Roman (German Edition)
Hinter dem Fenster loderte ein Licht auf: In der Ferne erblühte ein Vulkan vor dem endlosen eurasischen Grün, um im nächsten Moment dem Blick schon wieder entzogen zu sein. Sie wechselten weiter, immer weiter.
»Joshua«, sagte Lobsang, »wir sollten uns mal über natürliche Wechsler unterhalten. Solche wie du.«
»Und der Schütze Percy?«
»Du hast dich nach meinen Recherchen erkundigt. Seit dem Wechseltag versuche ich, möglichst sämtlichen Aspekten dieses bemerkenswerten neuen Phänomens nachzugehen. Zum einen habe ich Wissenschaftler um die ganze Welt geschickt, die von Frühmenschen bewohnte Höhlensysteme genauer untersuchen sollen. Ihre Aufgabe bestand in erster Linie darin, ähnliche Höhlen in nebeneinanderliegenden Welten zu erforschen, um eventuellen parallelen Nutzungen auf die Spur zu kommen. Es war ein aufwendiges Unterfangen, aber es trug Früchte, denn meine Forscher fanden schon bald in einer Höhle unweit von Chauvet in einem Wechsel-Frankreich unter anderem eine Malerei. Genauer gesagt handelte es sich um das Abzeichen eines bestimmten Regiments aus Kent aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, das mit erstaunlicher Genauigkeit ausgeführt war.«
»Schütze Percy?«
»Vermutlich. Da wusste ich natürlich bereits von seinem erstaunlichen Husarenstück. Aber dann haben meine unermüdlichen Ermittler in einer anderen Version der Höhlen in der Cheddar-Schlucht im englischen Somerset das vollständige Skelett eines Mannes mittleren Alters gefunden. Neben ihm befanden sich eine verkorkte Flasche Apfelwein, ein paar Münzen und eine goldene Uhr, die Mitte des 18. Jahrhunderts angefertigt worden war und von deren Metallteilen nur das Gold und das Messing übrig waren. Die Höhle war ziemlich feucht, trotzdem waren seine Stiefel noch erhalten, sie glitzerten sogar ganz leicht, ebenso wie der Mann selbst. Das Glitzern rührte vom Kalziumkarbonat her, das durch Tropfen von der Decke dort abgelagert worden war. Interessanterweise ließen sich weder die Schuhnägel noch die Pinken der Schnürsenkel finden.«
»Pinken?«
»Die kleinen Metallhülsen am Ende der Schnürsenkel … Ich will dir das alles nur möglichst genau ausmalen, Joshua.«
»Ein ziemlich langweiliges Bild, Lobsang.«
»Geduld. Das Verblüffende an dieser ganzen Sache ist, dass der Leichnam nur gefunden wurde, weil er auf dem Boden lag und die Finger einer Hand in einem kleinen Spalt im Boden der Höhle eingeklemmt waren. Meine Leute haben ihn entdeckt, als sie eine tiefer gelegene Höhle erforschten. Sie sahen die Knochen aus der Decke ragen, so als hätte der Mann vergeblich versucht, den kleinen Spalt zu vergrößern. Hört sich alles ziemlich nach Edgar Allan Poe an, stimmt’s? Natürlich haben sie sich einen Zugang nach oben verschafft, den Rest kannst du dir denken. Der Mann war ein berüchtigter Dieb und Tunichtgut, der dort in der Gegend unter dem Namen ›Quergänger‹ bekannt war.«
»Dann war er also ein Wechsler?«, fragte Joshua ohne große Begeisterung. »Und ich wette, dass es keinen anderen Zugang zu der Höhle gab.« Einen Moment lang stellte er sich vor, wie eiskaltes Wasser in der Dunkelheit über blutende Finger tropft, wie ein Mann versucht, sich aus einer Höhle freizuscharren wie aus einem Sarg … »Vielleicht hatte er zu viel getrunken. Schwester Serendipity hat mir einmal gesagt, dass der Apfelwein in Somerset aus Blei, Äpfeln und Stacheldraht gemacht wird. Er hat sich verirrt, ist gewechselt und fand sich in einer kleinen Höhle wieder, ohne zu wissen, dass er gewechselt war, was ihn natürlich noch mehr verwirrte. Er wollte sich heraustasten, schlug sich den Kopf an, verlor das Bewusstsein. Liege ich richtig?«
»Ziemlich. Der Schädel war tatsächlich ein wenig lädiert«, sagte Lobsang. »Kein schöner Tod, und ich frage mich, wie viele andere Menschen schon irgendwo in der Falle saßen, ohne zu wissen, was mit ihnen geschehen war. Es handelte sich um natürliche Wechsler , Joshua. Die Geschichte der Datum-Erde kennt sehr viele davon, wenn man weiß, wie man die Aufzeichnungen zu interpretieren hat. Leute, die auf geheimnisvolle Weise verschwinden. Auf geheimnisvolle Weise irgendwo auftauchen! Mysteriöse Geschichten von verschlossenen Zimmern. Thomas der Reimer ist eines meiner Lieblingsbeispiele, der schottische Prophet, der angeblich die Elfenkönigin geküsst und daraufhin diese Welt verlassen hat … In den moderneren Zeiten sind natürlich viele Fälle in der schwarzen Wissenschafts- und
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