Die Lange Erde: Roman (German Edition)
betastete den Unterleib des Wesens. »Sie ist kurz davor. Etwas stimmt nicht. Das Baby müsste inzwischen längst da sein.«
»Ich würde mal vermuten, dass der große Kopf des Kindes die Geburt vereitelt«, murmelte Lobsang.
»Was hast du in diesen Tornister gepackt?« Ehe Lobsang etwas erwidern konnte, hatte Joshua den kleinen Rucksack auf seiner Brust geöffnet und kramte darin nach einer Erste-Hilfe-Ausrüstung. »Und, Lobsang, bring das Schiff runter. Ich brauche noch mehr Sachen, wenn ich das hier hinkriegen will.«
»Was denn hinkriegen?«
»Ich hole das Kind raus.« Er streichelte dem Weibchen über die Wange. Vor vielen Jahren hatte seine eigene Mutter allein in einer fremden Welt gelegen, mitten in den Wehen. »Wir sind wohl zu vornehm zum Pressen, was? Dann machen wir es auf die amerikanische Art.«
»Du willst einen Kaiserschnitt vornehmen?«, fragte Lobsang. »Dazu bist du überhaupt nicht ausgebildet.«
»Vielleicht nicht, aber ich bin ziemlich sicher, dass ich es schaffe. Außerdem machen wir beide es zusammen, Lobsang.« Er kippte den Inhalt der Erste-Hilfe-Tasche aus und überlegte fieberhaft. »Ich brauche Morphium. Desinfektionsflüssigkeit. Skalpelle. Nadeln, Faden …«
»Wir sind sehr weit weg von zu Hause. Du verbrauchst bei diesem Kunststückchen unsere Medizinvorräte. Ich kann zwar neue Reserven herstellen, aber …«
»Ich muss es tun.«
Für die Opfer konnte er nichts mehr tun, aber für dieses Elfenweibchen schon – zumindest würde er es versuchen. Es war Joshuas Art, die Welt in Ordnung zu bringen, zumindest ein kleines bisschen. »Hilf mir, Lobsang.«
Nach einer halben Ewigkeit kam die Antwort: »Ich verfüge natürlich über uneingeschränkten Zugriff auf Daten für die meisten medizinischen Eingriffe. Sogar auf Geburtshilfe, obwohl ich eigentlich nicht damit gerechnet habe, dass wir bei unserer Reise darauf zurückgreifen müssen.«
Joshua fixierte den Papagei, damit Lobsang sah, was er gerade machte, und breitete seine Instrumente aus. »Was ist, Lobsang? Sprich! Was kommt zuerst?«
»Wir müssen überlegen, ob wir einen Längsschnitt oder einen Unterbauch-Querschnitt machen …«
Joshua rasierte hastig den Unterleib der Kreatur. Dann versuchte er, ein bronzenes Skalpell mit möglichst ruhiger Hand über der Bauchwand zu halten. Aber kurz bevor er zum Schnitt ansetzen wollte, verschwand das noch ungeborene Kind. Er spürte sein Nicht-mehr-Vorhandensein, als der Schoß in sich zusammenfiel.
Erschrocken wich er zurück. »Es ist gewechselt. Verdammt noch mal – das Baby ist gewechselt!«
Dann kamen die Erwachsenen. Zwei Weibchen – eine Mutter, eine Schwester? Sie bewegten sich in verschwommenen Sätzen und Schritten, erschienen flimmernd mal hier mal dort um ihn herum und verschwanden wieder. Joshua hatte nicht gewusst, dass man so rasend schnell wechseln konnte.
»Bleib ganz ruhig sitzen«, sagte Lobsang.
Die Erwachsenen starrten Joshua an, beugten sich über die Mutter, und alle verschwanden mit leisem Ploppen.
Joshua sank in sich zusammen. »Nicht zu fassen. Was ist da gerade passiert?«
Lobsang hörte sich aufgekratzt an. »Evolution, Joshua. Das, was da gerade passiert ist, nennt man Evolution. Alle aufrechtgehenden Humanoiden haben Schwierigkeiten mit der Geburt. Das weißt du, und deine Mutter musste es am eigenen Leib erfahren. Bei der Entwicklung des Menschen ist das weibliche Becken geschrumpft, um das Gehen auf zwei Beinen zu ermöglichen; gleichzeitig wurden die Gehirne der Babys größer. Deshalb kommen wir so hilflos zur Welt. Wir werden geboren, obwohl wir noch um einiges wachsen müssen, ehe wir unabhängig sind. Allem Anschein nach hat diese Spezies das Problem mit dem zu schmalen Becken durch einen Seitenschritt umgangen. Im wahrsten Sinne des Wortes.« Er lachte leise. »Hier werden die Kinder nicht durch den Geburtskanal zur Welt gebracht. Sie wechseln aus der Gebärmutter, Joshua. Mitsamt der Plazenta, der Nabelschnur und allem Drum und Dran. Gar nicht mal so dumm. Die Fähigkeit zu wechseln muss sich sämtlichen Aspekten im Leben eines Wesens anpassen, wenn man der Evolution nur genug Zeit lässt. Und wenn du den ganzen Stress der Geburt nicht mitmachen musst, kann dein Gehirn beliebig groß werden.«
Joshua kam sich leer vor. »Sie kümmern sich um ihre Kranken. Wenn ich sie geöffnet hätte, hätte die Mutter die Wunde nicht überlebt.«
»Das konntest du nicht wissen«, murmelte ihm Lobsang ins Ohr. »Du hast getan, was du konntest.
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