Die Lange Erde: Roman (German Edition)
nachsehen.«
»Wir können die Gefahr nicht einschätzen. Nicht quantifizierbar.«
Joshua mochte zwar ein Einzelgänger sein, aber in den Weiten der Langen Erde galt das ungeschriebene Gesetz, dass man einander half, sowohl dem Einzelwanderer als auch der Gemeinde, die sich in Gefahr befand. »Wir sehen nach.«
Die großen Rotoren des Luftschiffs setzten sich in Bewegung und schoben das Schiff näher auf den Rauch zu.
»Soll ich dir mehr über die Opfer des Taschenspielertricks erzählen?«
Joshua erfuhr, dass sich viele religiöse Splittergruppen, im Gegensatz zu den großen Religionen, deren heilige Stätten sich auf der Datum befanden – der Vatikan, Mekka etc. –, tief in die Lange Erde vorgewagt hatten, so wie es ähnliche Gemeinschaften schon seit Jahrtausenden auf der Erde vorgemacht hatten. Pilger dieses Schlages suchten sich oft Orte aus, die auch (an der Datum gemessen) geografisch weit entfernt waren, so wie diese hier: Auf der fernen Erde hätten sie sich immer noch sehr weit östlich von Moskau befunden. Unter diesen unkonventionellen Gruppen waren die Opfer des kosmischen Taschenspielertricks eine der ungewöhnlichsten.
»Sie verstehen ihre Religion als Nachdenken über die Wahrheit des Universums, die letztendlich eine absurde ist. Die beinharten Opfer glauben, dass jede Minute ein weiterer Mensch von ihrer Ansicht überzeugt ist. Außerdem müssen sie fruchtbar sein und sich mehren, um immer mehr menschliche Wesen zu schaffen, die sich an diesem Witz erfreuen können.«
»Ich glaube nicht, dass der Witz eine gute Pointe hat«, murmelte Joshua.
Sie segelten über ein paar Quadratmeilen gerodeten Waldes rings um eine Siedlung, die um eine kleine Erhebung gebaut worden war, die einzige etwas höher gelegene Stelle auf der Landenge. Auf dem Hügel selbst stand ein relativ großes Gebäude. Ringsum waren mit Steinreihen eingefasste Felder zu sehen. Lobsang zeigte auf die charakteristische Färbung einiger angebauter Pflanzen: Marihuana-Pflanzen, ganze Felder davon, was so manches über die Eigenheiten dieser Gemeinde verriet.
Überall lagen Leichen.
Lobsang ließ das Schiff auf fünfhundert Fuß steigen und hielt es dort. Aufgeschreckte Krähen flatterten auf und ließen sich wieder nieder. Die Opfer des kosmischen Taschenspielertricks trugen offensichtlich am liebsten grüne Gewänder, weshalb der Platz in der Mitte der Siedlung und die unbefestigten Wege, die strahlenförmig davon ausgingen, mit smaragdfarbenen Klecksen übersät waren. Wer kam den weiten Weg hierher, um mehrere Hundert friedliche Seelen auszulöschen, deren einzige Exzentrizität darin bestand, daran zu glauben, dass das Leben ein großer Schwindel war?
»Ich gehe runter«, sagte Joshua.
»Das hier ist erst vor Kurzem passiert«, sagte Lobsang. »Dieses Verbrechen, dieser Überfall. Wie du siehst, sind die Leichen nicht gefleddert worden. Etwas oder jemand hat dreihundert Leute abgeschlachtet, Joshua. Die Angreifer könnten immer noch dort unten sein.«
»Und vielleicht ist der Dreihunderteinste noch am Leben.«
»Das große Gebäude in der Dorfmitte, auf diesem Hügel. Von dort kommt das Funksignal.«
»Setz mich hundert Meter daneben ab.« Joshua überlegte kurz. »Dann springst du ein paar Welten weg, veränderst deine Position ein wenig und wechselst zurück. Falls wirklich noch jemand hier ist, kannst du ihn vielleicht hervorlocken.«
»›Hervorlocken.‹ Keine sehr beruhigende Idee.«
»Tu’s einfach, Lobsang.«
Das Luftschiff senkte sich.
Es stank nach Fett, nach brennendem Fleisch.
Joshua ging mit dem Papagei auf der Schulter über eine der schnurgeraden unbefestigten Straßen. Ein paar Krähen flatterten empört auf. Für so weit draußen war die Siedlung erstaunlich gut entwickelt. Die Gebäude bestanden aus mit Lehm verschmiertem Flechtwerk in stabilen Holzrahmen und standen in rechtwinklig angeordneten Reihen. Vermutlich hatten die Pioniere, die diese Grundstücke und die Straße angelegt hatten, schon lange davon geträumt, eine Stadt nach diesem Plan zu bauen. Jetzt waren viele Gebäude ausgebrannt; ein Stück weiter qualmte ein ganzes Viertel vor sich hin.
Er kam zu der ersten Leiche. Es war eine Frau mittleren Alters, der die Kehle herausgerissen war. Das hatte eindeutig kein Mensch getan.
Joshua ging weiter. Er fand noch mehr Leute in einem Graben, auf den Schwellen der Häuser, in den Häusern – Männer, Frauen und Kinder. Einige sahen so aus, als wären sie auf der Flucht niedergestreckt
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