Die Lange Erde: Roman (German Edition)
sollten, und zwar im neuen Kontext der Langen Erde. Kurz gesagt, ich wollte wissen, weshalb wir hier sind. Natürlich war ich zu diesem Zeitpunkt für meine Mutter und ihren Glauben längst verloren. Ich war sozusagen zu klug für meinen eigenen Gott. Ich hatte genug Zeit, um zu lesen, was sich in den vier Jahrhunderten nach Jesu Geburt ereignet hatte und mir die sprunghafte Entwicklung der Christenheit seit dieser Zeit genauer anzusehen. Wie die Wahrheit des Universums auch lauten mochte, ich hatte den Eindruck, als könnte sie auf keinen Fall von einem zerstrittenen Haufen antiker Kirchenmänner erkannt werden.«
David lachte laut auf.
»Außerdem begeisterte ich mich für die Paläontologie. Mich faszinierten Knochen und was sie uns erzählen können. Besonders deshalb, weil wir inzwischen über Werkzeuge verfügten, von denen die Forscher noch zwanzig Jahre zuvor nicht einmal geträumt hatten. Das war der Weg zur Wahrheit. Und ich war ziemlich gut, sehr gut sogar. Es kam mir vor, als würden mir die Knochen etwas vorsingen …«
Reverend Blessed hielt klugerweise den Mund.
»Nach dem Wechseltag dauerte es also nicht lange, bis mich die Leute von der Black Corporation anriefen und mir mitteilten, sie hätten alles für mich vorbereitet, ich könnte Expeditionen zu so vielen Varianten der Olduvai-Schlucht durchführen, wie es die finanziellen Mittel erlaubten. Zur Wiege der Menschheit, in den neuen Welten. – Wenn man es mit der Black Corporation zu tun hat, sind die finanziellen Mittel normalerweise unerschöpflich. Unser Problem bestand eher darin, dass es an ausgebildeten Leuten fehlte. Es war eine gute Zeit für Paläontologen, wir haben viele Neulinge ausgebildet. Jeder, der einen brauchbaren Abschluss und eine Ausgrabungskelle vorzeigen konnte, durfte sich eine eigene Schlucht auswählen, um ganz alleine darin herumzuforschen. Egal was sonst geschah, die Knochenjäger hatten ihr Eldorado gefunden. Etwas Ähnliches wie den Große Afrikanischen Grabenbruch gibt es fast überall in der Langen Erde; die Geologie ist relativ unveränderlich. Und wie erhofft fanden wir in unserem Zielgebiet an vielen Stellen Knochen, die eindeutig hominid waren. Ich arbeitete vier Jahre an dem Projekt. Wir dehnten unseren Aufgabenbereich aus, und es war immer das Gleiche: Ja, wir fanden überall Knochen, viele Knochen. Ich suchte mir andere naheliegende Orte auf der Welt aus, die möglicherweise die Heimat einer weiteren Lucy gewesen sein könnten – etwa ein chinesischer Zweig, das Ergebnis einer früheren Verbreitung von Afrika aus. Aber nach mehr als zweitausend Ausgrabungen in benachbarten Welten, die von der Black Corporation und auch von anderen finanziert und durchgeführt wurden, haben wir jenseits dieser frühen Knochen nirgendwo einen Hinweis auf die Entwicklung einer entstehenden Menschheit gefunden, Knochen, von denen einige deformiert, andere von wilden Tieren zerbissen und die meisten sehr klein waren. Es gab nichts jenseits der Australopithecinen, der Lucys. Die Wiegen der Menschheit waren leer.
Noch heute wird dort draußen weitergesucht, und bis zum letzten Jahr bin ich der Leiter des Programms gewesen. Am Ende hat mich die Leere der Langen Erde – jedenfalls die Abwesenheit des Menschen – so verstört, dass ich aufgegeben habe. Ich habe die großzügige Summe genommen, die mir die Black Corporation als Abschiedsgeschenk überreicht hat, obwohl ich weiß, dass sie hoffen, dass ich eines Tages wieder in ihren Stall zurückkehre. Ich hatte einfach genug, verstehen Sie, genug von diesen leeren Schädeln. Ich hatte jede Menge kleine Knochen gesehen. Man konnte den Aufbruch erkennen, aber nirgendwo ein Ankommen. Eines Tages habe ich mich gefragt, an welcher Stelle es in all diesen anderen Welten schiefgelaufen ist. Oder ist es vielleicht hier bei uns schiefgelaufen? Vielleicht ist die Entwicklung des Menschen nur ein unheimlicher kosmischer Fehler.«
»So kam es, dass Sie in den Schoß der Kirche zurückkehrten? Ein erstaunlicher Kurswechsel.«
»Man hat mir gesagt, dass in der jüngsten Geschichte niemand so schnell zum Priester geweiht wurde wie ich. Soweit ich weiß, war die anglikanische Kirche in der Vergangenheit Menschen gegenüber, die damals als Naturphilosophen bezeichnet wurden, immer sehr wohlwollend eingestellt. So mancher Vikar hat seine Sonntagnachmittage damit verbracht, frohgemut immer neue Schmetterlingsarten in Marmeladengläsern einzufangen. Ich habe mir dieses Leben immer sehr idyllisch
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