Die Lange Erde: Roman (German Edition)
von hier oben lässt sich nicht allzu viel erkennen.«
»Wegen des dichten Waldes?«
»Ich habe die mobile Einheit nach unten geschickt. Wir sind weit weg von zu Hause, Joshua. Über 900 000 Schritte. Stell dir das mal vor. Du siehst ja, wie es hier aussieht – die typische Waldlandschaft, so weit das Auge reicht. Womöglich bedeckt sie den gesamten Kontinent. Schwierig für Beobachtungen.«
»Trotzdem scheint es etwas zu geben, das dich interessiert.«
»Sieh dir mal die Liveübertragungen an.«
Das Bild auf dem Wandmonitor war zappelig, unscharf, von einer weit entfernten Kamera aufgenommen. Es zeigte eine freie Stelle im Wald, einen Einschnitt im Blätterdach, der offensichtlich durch den Sturz eines riesenhaften Baumes verursacht worden war, dessen Stamm, von Flechten und fremdartigen Pilzen bewachsen, mitten auf der Lichtung lag. Das einfallende Licht hatte dafür gesorgt, dass Schösslinge und niedriges Gestrüpp in die Höhe geschossen waren.
Außerdem hatte das neue Wachstum Humanoide angezogen. Joshua erblickte etwas, was wie ein Rudel Trolle aussah. Sie saßen dicht beisammen auf der Lichtung und lasen einander geduldig Insekten aus dem Rückenfell. Dabei sangen sie unablässig, Melodiefetzen wie halb vergessene Lieder – mehrstimmige Sätze, mit zwei, drei oder vier Stimmen, an Ort und Stelle improvisiert und sofort wieder vergessen, von den fernen Mikrofonen nur unvollständig eingefangen.
»Trolle?«
»Sieht so aus«, murmelte Lobsang. »Musikwissenschaftler würden hundert Jahre brauchen, um die Struktur dieser Gesänge aufzudröseln. Sieh hin.«
Als sich Joshuas Augen an die zittrigen Bilder gewöhnt hatten, erkannte er weitere Gruppen von Humanoiden, auf der anderen Seite der Lichtung und im Waldschatten, darunter einige Arten, die er noch nie gesehen hatte; sie spielten, arbeiteten, lausten sich gegenseitig, gingen vielleicht zur Jagd. Es sah so aus, als handelte es sich ausschließlich um Humanoide, nicht um Menschenaffen; jedes Mal, wenn sich einer von ihnen erhob, erkannte man deutlich die typische Haltung des Zweibeiners. »Sie scheinen einander nicht zu stören«, sagte er. »Die verschiedenen Arten.«
»Offensichtlich nicht. Ganz im Gegenteil.«
»Warum sind sie hier zusammengekommen? Schließlich handelt es sich um unterschiedliche Spezies.«
»Ich vermute, dass sie in dieser speziellen Gemeinschaft voneinander abhängig geworden sind. Eine Spezies zieht ihren Nutzen aus der anderen. Wahrscheinlich verfügen sie über unterschiedliche sensorische Bandbreiten, weshalb eine Spezies eine bestimmte Gefahr früher als die anderen wahrnimmt. Wir wissen, dass die Trolle Ultraschall benutzen. Ganz ähnlich gibt es auch verschiedene Delfinarten, die miteinander schwimmen. Wie du siehst, befolge ich deinen Rat, Joshua. Ich lasse mir mehr Zeit, um mir die Wunder der Langen Erde anzusehen, wie zum Beispiel diese Gruppierung von Humanoiden. Ein erstaunlicher Anblick. Es ist wie ein Traum von der evolutionären Vergangenheit der Menschheit – viele menschenartige Varianten friedlich vereint.«
»Aber was ist mit der Zukunft, Lobsang? Was passiert, wenn hier irgendwann einmal Siedler auftauchen, Menschen? Wie kann das hier überdauern?«
»Das ist wiederum eine ganz andere Frage. Und was geschieht, wenn sie alle von der allgemeinen Migration erfasst und nach Osten getrieben werden? Willst du runtergehen?«
»Nein.«
Später, als das Luftschiff längst weitergesegelt war, unterhielten sie sich noch einmal über die seltsame Einzigartigkeit des Menschen in der Langen Erde. Lobsang berichtete, er habe schon kurz nach dem Wechseltag dafür gesorgt, dass auf den Tausenden von Erden nach menschlichen Verwandten gesucht wurde, und erzählte Joshua die Geschichte eines Mannes namens Nelson Azikiwe.
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D er offiziellen Familiengeschichte zufolge war er nach dem berühmten Admiral benannt worden, aber wahrscheinlich war es eher Nelson Mandela gewesen. Seine Mutter behauptete, dieser Nelson sitze inzwischen zur Rechten Gottes, und Nelson junior übernahm in seiner Jugend die Ansicht, das sei eine sehr gute Sache, da Mandela nun in der Lage war, den rachsüchtigen Gott der Israeliten davon abzuhalten, der Menschheit noch mehr Kummer und Leid aufzuladen.
Seine Mutter hatte ihn im Geiste Jesu erzogen, wie sie sagte, um ihretwillen blieb er dabei, bis er am Ende eines recht verschlungenen Werdegangs und einer noch verschlungeneren philosophischen Reise die Priesterweihen entgegennahm. Schließlich
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