Die Lange Erde: Roman (German Edition)
wurde er nach Großbritannien eingeladen, um den Heiden die Frohe Botschaft zu bringen: ein Beweis dafür, dass sich alles irgendwann einmal rächt. Er mochte die Engländer sehr. Sie entschuldigten sich oft und gerne, was angesichts ihres Erbes und der Verbrechen ihrer Vorfahren nicht mehr als verständlich war. Aus irgendeinem Grund hatte ihn die Erzbischöfin von Canterbury in eine ländliche Gemeinde entsandt, die so weiß war, dass sie strahlte. Vielleicht besaß die Erzbischöfin einen ganz besonderen Humor, vielleicht wollte sie damit eine bestimmte Ansicht zum Ausdruck bringen, vielleicht wollte sie aber auch einfach nur sehen, was passierte.
Jedenfalls fand er nicht mehr das Vereinigte Königreich vor, von dem ihm seine Mutter erzählt hatte, als er noch klein war. Inzwischen war sie schon lange tot, und er spazierte durch ein London, in dem sich eine vielfarbige Bevölkerung drängte. Es gab kaum eine Nachrichtensendung, die nicht von einem Sprecher moderiert wurde, dessen Vorfahren noch vor nicht allzu langer Zeit unter den Sternen Afrikas gewandelt waren. Herrje, es gab sogar schwarze Männer und Frauen, die einem verkündeten, wann der Regen auf die Wiege der Demokratie fallen würde und wann nicht. Und das trotz eines sich auf geradezu unheimlich rasche Weise leerenden Landes mit einer Hauptstadt, von der sich eine Vorstadt nach der anderen verabschiedete.
Das sagte er seinem Vorgänger, dem bisherigen Amtsinhaber von St. John am Wasser, der in den Ruhestand ging. Reverend David Blessed war ein Anhänger des nominativen Determinismus. Als er Reverend Nelson Azikiwe zum ersten Mal sah, sagte er: »Mein Sohn, in den kommenden sechs Monaten – wenn nicht noch länger – dürfte es Ihnen nie an Einladungen zum Abendessen mangeln!« Was sich als zutreffende Prophezeiung erweisen sollte. Reverend Blessed konnte sich dank seiner Herkunft aus einer wohlhabenden Familie frühzeitig in sein eigenes Cottage zurückziehen, um sich, wie er sich ausdrückte, »den Spaß mitanzusehen, wenn Sie Ihren Dienst antreten.«
Er überließ Nelson die alleinige Nutzung des Pfarrhauses, abgesehen von einer ältlichen Frau, die ihm jeden Tag das Mittagessen kochte und im Haus ein wenig sauber machte. Sie war nicht sehr gesprächig, und Nelson wiederum wusste nicht, was er zu ihr sagen sollte. Abgesehen davon hatte er ohnehin alle Hände voll zu tun, da das Pfarrhaus über keinerlei Wärmedämmung verfügte, dafür über ein Rohrleitungssystem, dessen Funktion wohl der Herr selbst nur mit Mühe verstanden hätte; manchmal spülte es mitten in der Nacht von ganz allein und ohne ersichtlichen Grund.
Er befand sich in einem Teil Englands, der wundersamerweise von der Langen Erde unberührt geblieben war. Ebenso, wie Nelson alsbald erkannte, vom 21. Jahrhundert. Daraus schloss er, dass die Bewohner Mittelenglands die Zulus Großbritanniens waren. Es hatte den Anschein, als wäre jeder zweite Dorfbewohner irgendwann einmal ein Krieger gewesen, nicht selten sogar von hohem Rang. Jetzt, im Ruhestand, kümmerte man sich um seinen Garten und schikanierte Kartoffeln anstelle von Menschen. Die allgemeine Höflichkeit überraschte ihn allerdings. Ihre Frauen buken ihm so viele Kuchen, dass er einen Teil an Reverend Blessed (i. R.) abgeben musste, der, wie Nelson vermutete, den Auftrag hatte, ihn noch eine Weile im Auge zu behalten und seine Fortschritte der Kirchenbehörde im Lambeth Palace zu melden.
Sie unterhielten sich in Davids Cottage, während Reverend Blesseds Ehefrau bei einer Versammlung des Frauenvereins war.
»Natürlich gibt es immer ein paar Verbohrte und Unverbesserliche«, sagte David. »Aber von denen dürften Sie hier nicht sehr viele antreffen, weil die Reflexe des englischen Klassensystems stets die Oberhand gewinnen, verstehen Sie? Sie sind groß, gut aussehend und sprechen ein erheblich besseres Englisch als ihre eigenen Kinder. Und als Sie bei der Beerdigung des alten Humphrey einige Auszüge aus W. H. Hudsons Ein Schäferleben zitiert haben, sind nach der Andacht – die Sie im Übrigen ganz hervorragend gehalten haben – einige Kirchgänger sofort zu mir gekommen und haben mich gefragt, ob ich Sie darauf gebracht hätte. Selbstverständlich habe ich das verneint. Glauben Sie mir, sobald sich das herumgesprochen hat, haben Sie gewonnen. Den Leuten ist sehr wohl aufgefallen, dass Sie nicht nur fließend Englisch sprechen, sondern sich auch hervorragend mit allem Englischen auskennen, und das bedeutet hier sehr
Weitere Kostenlose Bücher