Die langen Schatten der Erleuchtung
Tempeln. Doch diese Stupa ist ja viel, viel höher. Ihr müsst wirklich mächtige Götter haben!“
Harald zuckte ratlos mit den Achseln: „Erstens haben wir nur einen Gott, und zweitens ist das auch kein Tempel zu Ehren unseres Gottes, das ist unser Fernsehturm. Der strahlt das Programm aus, damit wir im Fernsehen ein Bild sehen können!“
„Du machst dir einen Scherz mit uns, Harald?“, meinte Jojo belustigt. „So einen riesigen Turm, nur um diese kleinen Bilder vom unwirklichen Leben zuhause sehen zu können?!
„Oh je, macht mich nicht wahnsinnig mit euren blöden Fragen! Merkt ihr denn nicht, dass ich krank bin“, seufzte Harald resigniert, „wenn ihr es nicht glauben wollt, dann lasst es bleiben!“
Sie überquerten die Straße und gingen auf das geöffnete, schmiedeeiserne Tor der Parkanlage zu. Angesäuert hörte Harald, wie Hanif kicherte: „So einen riesigen Turm für so ein winziges Fernsehbild, Meister Jojo! Ob Harald vielleicht noch Fieber hat?“
In diesem Augenblick stürzte sich eine Bungee-Springerin mit einem markerschütternden Schrei vom Fernsehturm in die Tiefe. Hanif hielt sich vor Schreck am Tor fest.
„Was ist denn das nun wieder?“, stammelte er, als er beobachtete, wie die Bungee-Springerin vom Gummiseil wieder hochgezogen wurde. „Die ist ja tot! Das ist wohl so eine Art Opferkult wie bei uns in früheren Zeiten. Es ist also doch ein Gebäude zu Ehren der Götter! Du willst uns bestimmt an der Nase herumführen, Harald, oder?“
Jojo tippte Hanif auf die Schulter und zeigte auf die Springerin, die jetzt kopfüber von zwei jungen Männern kurz über dem Boden in Empfang genommen, auf die Füße gestellt und von der Sprungleine befreit wurde. „Hanif, die Frau ist nicht tot! Die scheint froh zu sein, dass sie doch noch nicht gestorben ist! Ich glaube, die Menschen hier sehnen sich danach, sich selbst zu verlieren, um sich dann wieder zu finden!“
„Ich kapier das sowieso nicht, was daran so toll sein soll: Die Leute springen hier aus Jux in den Abgrund“, schüttelte Harald den Kopf, „und bezahlen sogar noch viel Geld für den Wahnsinn! Käthchen hat mir mal einen Tausender geboten, wenn ich vom Turm springe. Warum, weiß ich auch nicht, wahrscheinlich, um mich aufzuziehen. Sie weiß natürlich, dass ich ein Feigling bin! Würdest du etwa vom Turm springen, Jojo? Oder du, Hanif?.....“
Jojo wendete sich Harald mit blitzenden Augen zu: „Ich bin soeben mit dieser Frau gesprungen. Ich weiß, was sie gefühlt hat und weshalb sie das tut.“
„Du meinst in der Vorstellung wie autogenes Training oder wie das heißt…! Ja, das kenne ich von der Frau meines Chefs! Frau Maltzahn hat vor ein paar Jahren damit angefangen, sich alles Mögliche auszumalen, erst ganz harmlos, aber dann wurde es immer schlimmer! Sie hat von nix anderem mehr gesprochen. Und mir erzählt, selbst die Slalomfahrer beim Skilaufen machen das vor dem Start, aber dann FAHREN die auch!“
„Harald, du hast doch eben noch voller Überzeugung gesagt, dass es Wahnsinn sei, in den Abgrund zu springen. Also weißt du doch, wie es ist, vom Turm zu springen! Du bist im Geiste auch den Turm mit runtergesprungen – nur hast du es anders erlebt. Jeder, der springt, erlebt es auf seine Weise. Für manche ist es tatsächlich ihr persönlicher Kult, den Göttern zu huldigen. Ich habe die Springerin vor Lebendigkeit aufleuchten gesehen, als sie für einen winzigen Moment ihrem Tod ins Auge blickte. - Bei mir ist es ständig so: Ich erlebe den Tod und das neue Leben mit jedem Atemzug – ich springe jeden Moment. Darum brauche ich nicht extra auf den Turm zu klettern. – Mittlerweile glaube ich, dass die meisten deiner Landsleute sich so verzweifelt fühlen, weil es ihnen nicht gelingt, die Idee des Lebens einzufangen, der sie hinterherlaufen. Einige steigen dann ganz oben auf den Turm, um die ausgesandten Bilder gleich zu packen, bevor sie in der Ferne verschwinden. Sie fühlen sich halbtot, gelangweilt und stürzen dem Leben hinterher, aber das wirkliche Leben ist viel schneller als die Abbilder davon… - Was meinst du, Harald, wovor du solche Angst hast?“
Hanif erbleichte. Meister Jojos Fragen berührten immer sein Herz, selbst wenn sie scheinbar nur den anderen galten. Auch wenn er sich manchmal dumm stellte, war Hanif mittlerweile ein gelehriger Schüler geworden, der aufgeweckter war als es schien. Aber Meister Jojo verstand es wie kein anderer,
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