Die langen Schatten der Erleuchtung
schattenhafte Eindrücke der Vergangenheit aus den verborgensten Winkeln seiner Seele hervorzulocken.
„Genauso hat Frau Maltzahn auch immer geredet, Jojo! Ziemlich konfus, so als sei sie mit geheimen Kräften in Verbindung. Ihr Mann war schon richtig verzweifelt! Er meinte, sie hätte einen Messias-Komplex. Selbst wenn man ihr nur ` Guten Tag ´ sagte, bekam man gleich einen Vortrag über Leben und Sterben, über Gott und die Welt. Und über den ewigen Augenblick! Es war entsetzlich! Auf den Betriebsfeiern hat sich schon keiner mehr getraut, sich neben sie zu setzen. Man nannte sie nur noch Tante Autogenia! Am Ende war eine psychosomatische Kur fällig! Und rate mal, für wen? Für Herrn Maltzahn! Er hatte zu trinken angefangen, weil er es nicht mehr aushielt! - Wovor ich Angst habe, Jojo? - Vor dem Leben allgemein - nicht vor dem Tod. Aber ich BIN auch schon mal gesprungen, ob du es glaubst oder nicht! Vom Dreimeterbrett in der Badeanstalt! Und dabei auf den Rücken geknallt. Ich kann dir flüstern, da wird der Augenblick tatsächlich unendlich lang, wenn du fällst und weißt, dass du jeden Moment auf den Rücken klatschst! Deswegen verstehe ich, wie du über das Springen redest. Das ist schon okay! Vielleicht ist das sogar wirklich weise! Allemal besser, als auf den Rücken zu fallen. Aber übertreib´s nicht wie Frau Maltzahn!“
„Und wie hat sich Frau Maltzahn entwickelt?“, fragte Jojo.
„Sie ist jetzt gerade von der Wünschelrute zum Pendeln übergewechselt! Sie pendelt die ganze Welt aus!“
Hanif meinte nachdenklich: „… aber es wäre vielleicht ganz gut für uns alle, schon einmal vor dem allerletzten Sprung ein bisschen zu üben. Du, Harald, könntest immer mal von Zeit zu Zeit auf deinen Kopierer klettern und herunterspringen, wenn dein Fuß wieder heil ist….“
„So wie Jojo vom Turm, was?“, lachte Harald, „ja, das wird eine Gaudi! – Aber du siehst auf einmal so blass aus, Hanif! Von welchem Turm bist du denn gesprungen?“
In diesem Augenblick hörte man den Schrei des nächsten Springers. Hanif hielt sich die Ohren zu, doch Jojo wendete noch einmal den Blick zum Turm und sah, wie eine Person in die Tiefe stürzte.
Harald führte die beiden an alten Bäumen vorbei zum Rosengarten. „Das hier sind Urwelt-Mammutbäume“, erklärte Harald kundig und zeigte auf die braunstämmigen Nadelbäume, „ihr müsst euch mal vorstellen, Jojo und Hanif, die sind schon seit über 70 Millionen Jahre auf der Erde!“ Hanif legte die Stirn in Falten und schien angestrengt rückwärts zu zählen. Als er nach einer kleinen Ewigkeit immer noch wie angewurzelt mit offenem Mund dastand, klopfte Jojo Hanif lachend auf die Schulter: „Vergiß nicht zu atmen – jetzt ist die einzige Zeit, die du zählen kannst!“
„Das sind eine Menge Atemzüge und Augenblicke, nicht, Jojo?“, schmunzelte Harald, dem Hanifs Verwirrung sichtliches Vergnügen bereitete.
Aber schon wurde ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung gelenkt, als sie einer Gruppe von Läufern ausweichen mussten, die gerade im Park ihre Runden drehten. Harald ging quer über die Wiese voran, auf der es sich Familien und Liebespaare auf ihren Wolldecken bequem gemacht hatten und das schöne Wetter genossen. Mehrere Gärtner in grünen Latzhosen und derben Sicherheitsstiefeln mähten den Rasen und harkten die Blumenbeete. Hanif war besonders von dem Mann angetan, der auf einem Rasenmäher saß und über die Wiese kurvte.
„Meister Jojo, hier haben sie also doch einige Felder!“, meinte Hanif. „Aber ich glaube nicht“, erwiderte Jojo, „dass sie hier etwas anbauen, was man essen kann!“ Hanif war bei einem der Gärtner stehengeblieben, der auf seine Harke gestützt eine Zigarette rauchte. Er sprach ihn an, und der Gärtner hielt ihm die Schachtel mit den Zigaretten hin. „Ich komme gleich nach, Harald!“, meinte Hanif, der vergnügt an seiner Zigarette paffte. Harald und Jojo erreichten wenige Schritte weiter den Rosengarten, der in voller Blüte stand. Sie setzten sich auf eine Bank. Sie winkten Hanif zu, der sich nun von dem Gärtner verabschiedete.
„Das gefällt mir hier sehr gut!“, meinte Jojo.
„Ja, das ist sehr schön, Harald“, stimmte Hanif zu, der sich nun zu ihnen setzte. „Wirklich sehr, sehr schön! Wunderbar!“ In diesem Augenblick ertönte mit einem Paukenschlag klassische Musik direkt hinter ihnen.
Jojo blickte irritiert nach hinten. „Seht mal dort
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