Die langen Schatten der Erleuchtung
Lotus-Sitz auf dem Podest nieder. Wie immer vor solchen Veranstaltungen hatte er sich beim Umziehen noch eine schmerzstillende Spritze gesetzt, um diese imposante Haltung durchstehen zu können. Bewunderern, die sich vergeblich an diesem Sitz versucht hatten, erklärte er jedoch: „Das eigentliche Geheimnis dabei ist, dass du in die Mitte deines Schmerzes gehen musst und nicht weiter versuchst, ihm davon zu laufen! Es ist praktisch die Aufgabe des Ego!“
„Sieht er nicht wieder galaktisch aus, unser Devian! Unser Orakel aus dem Schanzenviertel! Ich würde zu gerne ´mal ausprobieren, ob er im Bett auch so eine große Leuchte ist!“, meinte eine von den jungen Frauen an Hanifs Nebentisch.
„Ich bin mir sicher, dass er völlig rein lebt! Sonst könnte er diese Offenbarungen gar nicht empfangen!“
„Du bist ja eine Traumtänzerin, schau dir mal diese esoterische Ziege vor seinem Podest an! Meinst du, die schlägt nur seinen Gong?!“
Nachdem „Devian“ mit unendlicher Sorgfalt sein Gewand gerichtet und dann hin- und herwiegend auf dem Meditationskissen seinen Platz für die Ewigkeit gefunden hatte, richtete er eine Weile schweigend seinen Blick ins Publikum. Er nickte kaum merklich heiter in die Runde, dann begann er:
„Die Quelle in mir grüßt die Quelle in Euch. Willkommen! – Kurz vorweg: Ein neues Mitglied unserer Gemeinschaft im Geiste, unsere geliebte Elvira, die die mediale Gabe besitzt, Schwankungen im Feld der Aufmerksamkeit aufzuspüren, hat sich bereit erklärt, in entscheidenden Momenten feine Akzente zu setzen, um unser aller Erwachen zu unterstützen.“ Elvira legte nach diesen Worten ihre Hände vor der Brust zusammen und verneigte sich, als tauche sie für Augenblicke aus diesem profanen Kosmos ein in eine andere Welt.
„Ansonsten haben wir heute einen indischen Gast unter uns. Hier vorne zu meiner linken am ersten Tisch: der verehrte Asket Hanif aus dem Himalaja!“ Hanif hob prostend sein Weizenbier und schaute lächelnd in die Runde.
„Wie ihr sehen könnt, scheut man selbst den weiten Weg aus dem fernen Indien nicht, um hier im Schanzenviertel echtes Erwachen zu erfahren. Ein Zeichen der Existenz, dass sich die Kunde vom wahren Licht des Geistes herumspricht und unsere Sangha wächst…“ Jubel und begeisterter Applaus brandeten auf. „Darum soll unserem Gast auch das Recht der ersten Frage gewährt sein! Also, verehrter Hanif! Nur zu!“ Devian verfiel nach seiner Aufforderung augenblicklich in eine Art Totenstarre, als lausche er einer tonlosen Musik.
Hanif nahm einen Schluck von seinem Bier, ehe er begann: „Ich kenne einen indischen Weisen, der behauptet, man müsse erst alle Hoffnung aufgeben, um die Erleuchtung zu erlangen. Wie denkst du darüber, Gotti … äh… Devian?“
Elvira, die zu Gottis Füßen saß, schlug mit dem hölzernen Klöppel gegen den Gong. Als der Klang langsam verebbte, öffnete Gotti die Augen und sprach:
„Das klingt sehr weise! Wenn es denn jemanden gäbe, der handelt. Aber es gibt keinen, der handelt. Die Dinge geschehen einfach! Du kannst von dir aus nichts aufgeben, da auch nichts vorhanden ist, was du aufgeben könntest. Sage das bitte deinem Weisen, Hanif!“
„Ich habe mal eine ganz einfache Frage“, meldete sich eine junge Frau zu Wort, „mein Lover und ich stecken zur Zeit in einer Krise. Ich weiß nicht, was ich machen soll? Ich will ihm auch nicht hinterher laufen. Ich habe in unserer Beziehung schon zu oft nachgegeben! Was soll ich tun, Devian?“ Wieder ließ Elvira den Gong ertönen.
„Was du tun sollst? Nichts! Sei einfach still und ruhig! Dann übernimmt der Kosmos, der überpersönliche Wille des Universums, das Geschehen. Und alles geschieht, was geschehen soll! Und nichts geschieht, was ungeschehen bleiben soll!“ Gotti legte den Zeigefinger seiner rechten Hand an die Lippen und blickte die junge Frau an: „Sei einfach still!“
Eine weitere Frage konnte in diesem Augenblick noch nicht gestellt werden, da die Bedienung sich gerade einen Weg zu Hanifs Tisch bahnte, um ihm sein zweites Weizenbier zu bringen.
„Muss das denn jetzt unbedingt sein!? Immer diese Sauferei!“, klagte aufgebracht ein magerer, junger Mann mit kahl geschorenem Kopf.
„Hast du es denn nicht eben gehört?“, konterte Hanif prostend, „Ich bestelle weder das Bier, noch trinke ich es. Es geschieht einfach nur. Also, kein Grund sich aufzuregen!“
„Devian“, fuhr der junge Mann
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