Die langen Schatten der Erleuchtung
eifernd fort, „gibt es einen Sinn des Lebens?“
„Der Sinn des Lebens ist“, antwortete Gotti nach dem Verhallen des Gongs, „dass du nach ihm fragst!“
Das Gesicht des Fragenden hellte sich in unendlicher Erleichterung auf, er senkte dankend sein kahles Haupt und nippte dann versonnen an seinem Tee, während die anderen noch über dieser rätselhaften Antwort brüteten. Einige machten sich Notizen.
„Devian“, fragte nun die junge Frau von Hanifs Nebentisch mit einem ironischen Unterton in der Stimme, „ist ein keusches Leben eigentlich Bedingung, wenn man sich um Erleuchtung bemüht?“
„Warum sollte es eine Bedingung sein? Die Unkeuschheit kann durchaus ein hilfreiches Mittel sein, einen anderen Menschen für eine Weile glücklich zu machen!“
„Und darf ich einmal eine persönliche Frage stellen – auch wenn es ja, wie wir alle mittlerweile wissen, letztenendes gar keine Person gibt -, wie hältst du es damit, Devian?“
„Mal so, mal so!“
Jetzt fühlte sich ein junger Mann ermutigt zu fragen: „Und wie steht es mit der Homosexualität? Ist sie so verwerflich, wie sie in allen Religionen abgeurteilt wird, Devian?“
„Wir alle wissen in unserem Herzen, was verwerflich ist. Wir brauchen dafür keinen Ratgeber oder Richter. Alles kann man in Unschuld tun. Und alles kann man zur Sünde machen. Es gibt auch eine sündhafte Enthaltsamkeit!“
Als nächstes meldete sich ein älterer Mann zu Wort: „Ich habe Krebs und wohl nicht mehr lange zu leben. Ich habe Angst vor dem Tod! Was kann ich dagegen tun?“
„Gegen deinen physischen Tod kannst du nichts tun. Es ist das Denken, das sich Sorgen macht, da es nicht weiß, wo es nach dem Tode sein wird. Du selbst hast keine Angst! Warum auch! Hattest du etwa Angst vor dem Geborenwerden? Natürlich nicht! Es ist nur dein Denken! Es ist das gleiche Denken, das uns alle ein Leben lang mit Sorgen füttert, immer kalkuliert und abwägt. Diese alte Krämerseele! Kümmere dich nicht mehr um dein Denken! Hast du einmal ein Tier sterben sehen? Es ist nicht aufgeregt, noch nicht einmal verzweifelt! Ein Tier lebt immer im Hier und Jetzt! Sei voller Vertrauen! Der Tod ist keine große Sache!“
Hanif war gerade beim dritten Weizenbier: „Devian, ich habe alle Fragen und all deine Antworten aufmerksam verfolgt. Doch ich komme mir ein wenig vor wie ein Affe in meiner Heimat, der sich nicht nur von Ast zu Ast hangelt, sondern auch noch von Baum zu Baum!“
„Habe ich je behauptet, dass es nur EINE Wahrheit gibt? Und um bei deinem Beispiel mit dem Baum zu bleiben: Ich habe euch nicht zum Baum der Wahrheit geführt, sondern in den Wald der Erkenntnis, verehrter Hanif!“
Gelächter der eingeweihten Anhänger unter den Zuhörern brauste auf! „Wie Devian das immer wieder auf den Punkt bringt! - E I N M A L IG!!!“
Hanif grinste schelmisch, und als sich das bewundernde Gemurmel im Saal wieder gelegt hatte, rief er: „Großer Gotti … äh …Devian natürlich, kannst du mir denn folgende Frage beantworten: …. da, wo Vergangenheit und Zukunft Hochzeit feiern – ist das Leben oder Tod? Wenn du sagst: Leben! – so schütte ich dir mein Bier über den Kopf. Wenn du sagst: Tod! – schütte ich dir auch mein Bier über den Kopf. Gib mir die Antwort, die deinen Kopf nicht nass werden lässt!“
Ein empörtes Raunen ging durch die Reihen. Dann wurde es still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Sogar Elvira vergaß, den Gong anzuschlagen. Devian und Hanif schauten einander an, ihre Blicke schienen in einer endlosen Dornröschenstarre gefangen zu sein. Doch Gotti wäre nicht Devian, hätte er nicht im letzten Moment noch einen Ausweg gefunden. Langsam erhob er sich aus seinem schmerzhaften Sitz. Er ordnete ruhig sein Gewand, bis er fühlte, wie sein Blut wieder in seinen abgestorbenen Beinen zirkulierte. Dann trat er ruhig an Hanifs Tisch heran. Alle im Saal hielten den Atem an. Da ergriff er Hanifs Glas und stürzte seinen Inhalt in einem Zug herunter…. Für einen Moment herrschte Totenstille, dann brandete tobender Beifall durch das Bei Costas . Genial, unser Devian…unglaublich!!!
Hanif lachte und griff nach dem halbvollen Becher Yogi-Tee auf dem Tisch seiner Nachbarin: „Nicht schlecht, mein Lieber, doch ich weiß es, und du weißt es auch, … deine Antwort ist für einen Erwachten noch nicht gut genug!“ Ehe Devian sich versah, hatte Hanif den Becher über ihm
Weitere Kostenlose Bücher