Die Lanze des Herrn
zur Porta Sant’Anna rechts vom Haupteingang, durch den täglich die Touristenmassen strömten. Nur hohe Würdenträger des Vatikans und die päpstlichen Hellebardenträger der Schweizergarde hatten das Recht, sie zu benutzen. Judith sprach ein paar Worte in die Sprechanlage und betrat das für die Öffentlichkeit gesperrte Gelände. Vietato al pubblico. Sie passierte eine weitere Wache, und der Mann prüfte der Form halber, ob ihr Name in dem ihm vorliegenden schwarzen Register eingetragen war. Dann stieg sie die Treppe bis zur zweiten Etage des Palasts hinauf, wo Dino Lorenzos Büros lagen. Ganz in der Nähe läuteten die Glocken von San Damaso. Es war acht Uhr.
Beim Gang durch die Korridore musste Judith daran denken, was alles seit dem Tod Clemens’ XV. und dem Amtsantritt seines Nachfolgers geschehen war. Es war zu Erschütterungen gekommen, zu wahrhaften Veränderungen, Anzeichen einer Öffnung, die nicht nur in neuen Ideen, sondern auch in Taten zum Ausdruck kamen. Die Atmosphäre hatte sich gewandelt.
Clemens XVI. war nun seit sieben Jahren in Amt und Würden und hatte sich nicht geschont. Er hatte die Kirche in einer schwierigen Lage übernommen. Sinkende Zahlen bei den praktizierenden Gläubigen, ein Rückgang bei den Anwärtern für das Priesteramt und dazu unverhohlene Angriffe von allen Seiten. Die erste große Herausforderung für den neuen Papst war die Erneuerung der Kirche gewesen, ohne das Gleichgewicht zu zerstören, das sein Amt verlangte. Im Unterschied zu seinem Vorgänger hatte Clemens XVI. seinen Reformwillen deutlich zum Ausdruck gebracht. Er hatte während seines Pontifikats das dritte vatikanische Konzil zusammenrufen wollen. Das war sein großes Vorhaben gewesen. Aber nach seiner Wahl war er gezwungen gewesen, seinen Ehrgeiz zu zügeln. Man konnte eine jahrhundertealte Institution nicht wie von Zauberhand und auf einen Schlag verändern. Die Kirche blieb die Kirche. Und Clemens XVI. der Stellvertreter Christi auf Erden. Ihm fiel die schwere Aufgabe zu, mehr als eine Milliarde Gläubige zu führen.
Die Voraussetzungen dafür brachte er mit. Dynamik, Erfahrung, eine lange Dienstzeit als Diplomat und gründliche Kenntnisse der apostolischen Verwaltung. Es war ihm nicht schwergefallen, sich von der Kurie unabhängig zu machen. Noch standen nach alter Tradition viele Italiener im Dienst der Kirchenverwaltung, dennoch war sie bereits beträchtlich internationaler geworden. Nord- und Südamerikaner, Asiaten und Afrikaner hatten den Vatikan mit neuen Impulsen belebt und das Gesicht der Zentralbehörden verändert. Der neue Heilige Vater, ehemaliges Mitglied des diplomatischen Korps, hatte seit Beginn seines Pontifikats Wert darauf gelegt, die Rolle des Vatikans im religiösen Dialog zu stärken und auch seine weltlichen Beziehungen zu verbessern. Hundertvierzig Staaten unterhielten permanente diplomatische Vertretungen beim Heiligen Stuhl, darunter die USA und Israel, seit der Vatikan und Israel sich gegenseitig diplomatisch anerkannt hatten. Die diplomatische Präsenz des Vatikans in der Welt hatte sich fast verdoppelt. Der neue Papst verstand es, junge Menschen anzusprechen und auf die Sorgen aller fünf Kontinente einzugehen. Die Medien hatten diese Entwicklung unterstützt. Die Beziehungen zwischen ihnen und dem apostolischen Stuhl hatten sich ständig verbessert. Clemens XVI. war sich des Einflusses der Medien, besonders der Rolle von Radio und Fernsehen, zu sehr bewusst, um sie nicht in den Dienst seiner großen Vorhaben zu stellen.
Judith schüttelte den Kopf. Seine großen Vorhaben. Es waren viele und die damit einhergehenden Probleme waren noch zahlreicher. Um sie zu meistern, hatte sich der Papst mit Menschen seines Vertrauens umgeben: Kardinal Acquaviva, dem Leiter der Glaubenskongregation; Romero, dem Vorsitzenden des päpstlichen Rates Iustitia et Pax; Nabisso, dem Leiter der Bischofskongregation; Monsignore Almedoes, dem Botschafter für alle brisanten Aufgaben im Ausland. Der Papst war klug, kompromissbereit und realistisch, aber er konnte auch in die Offensive gehen. Seine erste Amtshandlung von weltweiter Bedeutung war die Enzyklika De natura rerum, Von der Natur der Dinge, im dritten Monat seines Pontifikats. Die Enzyklika, nach dem berühmten Werk des antiken Materialisten Lukrez benannt, war eingeschlagen wie eine Bombe. Die Anspielung war natürlich gewollt. Der Heilige Vater hatte sie sich zunutze gemacht, um den modernen Materialismus wirksamer zu bekämpfen. Doch er
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