Die Lanze des Herrn
griff in seinem Rundbrief nicht blind die moderne Gesellschaft an, indem er sich hinter dem kategorischen Imperativ irgendwelcher Dogmen verschanzte. Er warnte nur vor einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklung. Das weltweite Aufsehen, das seine Botschaft erregte, bot ihm Gelegenheit, seine Schwerpunkte eindeutig zum Ausdruck zu bringen. Derzeit bereitete er eine neue »Bombe« vor, die Enzyklika Ad vitam aeternam, die sich mit den heiklen Fragen der Sexualität, der künstlichen Fortpflanzung, der Empfängnisverhütung, dem Klonen und der Euthanasie beschäftigte. Leben und Tod.
Der Papst schreckte nicht davor zurück, die schwierigsten Diskussionen anzustoßen. Dazu bedurfte es der Fähigkeit zur Nuancierung sowie der Geduld und der Achtung vor anderen Menschen. Die Ordination von Frauen. Der Zölibat der Priester. Die Empfängnisverhütung. Die anonyme Geburt. Die Rechte des Kindes. Die Homosexualität, auch die innerhalb der Kirche. Der Terrorismus und die Beziehung zum Islam. Der Missbrauch der Gentechnik. Der Relativismus und das Absolute. Die Frage von Wahrheit und Überzeugung, der man mit immer größerem Misstrauen begegnete. Auf allen Gebieten der Politik und des Lebens musste man neu über die Grenzen sprechen. Entscheiden, was die Kirche im Namen des Glaubens und der Achtung vor dem menschlichen Leben zulassen konnte und wovon sie Abstand nehmen musste. Nach dem schwierigen Ausklang des Pontifikats von Clemens X V. wollte der neue Papst die Menschen wach rütteln. Ihm lag daran, sowohl die Herzen der Gläubigen wie die der Nichtgläubigen zu erreichen und dabei den Unterschieden absoluten Respekt zu zollen.
Die letzte, jedoch keineswegs unwichtigste seiner großen Aufgaben sah er darin, den Dialog zwischen Juden, Protestanten, Anglikanern, Buddhisten und Muslimen verstärkt in Gang zu bringen. Er plante eine Neuauflage des großen Ereignisses von Assisi im Jahr 1986, als es dem Papst zum ersten Mal in der Geschichte gelungen war, Vertreter der drei Weltreligionen an einem Tisch zu versammeln. Er wollte Vertreter der drei großen Buchreligionen zu einem Friedensgottesdienst einladen. An dem Projekt wurde bereits seit einiger Zeit gearbeitet. Die Begegnung sollte in wenigen Wochen stattfinden, im Herzen Jerusalems, der Wiege der auf Abraham zurückgehenden Religionen. Das war tatsächlich revolutionär. Der Papst verwandelte die Utopie zum Ideal, um sie dann in der Wirklichkeit zu verankern. Er wollte der Papst der geistlichen Erneuerung und des Gedankenaustausches werden.
Judith lächelte. Diesen hoffnungsvollen Initiativen konnte man sich nur anschließen. Sie wollte daran glauben. Vielleicht würde dieser Papst wirklich das Gesicht der Kirche verändern. Sie würde hinter ihm stehen, auch wenn sie sehr wohl wusste, dass es mit der inneren Harmonie der Kirche so eine Sache war. Der Schatten des verstorbenen Kardinals Angelico lag noch über dem Vatikan. Die Konservativen machten manchmal einen Schlenker bis zum Sektierertum und Fundamentalismus. Durch seine klaren Stellungnahmen hatte der Papst paradoxerweise mehr als einen von ihnen radikaler gemacht. Man kämpfte um jeden Buchstaben des Konzils von Nicäa und auch der Laterankonzile. Zwar hatte der Papst seit langem eine große Fraktion von Theologen für seine Sache gewonnen, doch insgesamt blieb der Vatikan gespalten. Es lagen sogar Befürchtungen in der Luft, es könne zu einem Schisma kommen. Der neue Papst hatte nicht nur die Aufgabe, die Menschen einander anzunähern. Er musste auch manchmal Feuerwehr spielen.
Unweit von Judith fiel ein Sonnenstrahl auf den Teppich des Korridors. Die junge Frau ging gerade an einem der großen Fenster vorbei, die auf die vatikanischen Gärten hinausgingen. Gern wäre sie stehen geblieben, um den Anblick der heiteren Alleen, Brunnen und Blumenrabatten zu genießen und auch der schlanken Bäume nahe der Balustrade. Doch sie hatte keine Zeit zu verlieren.
»Guten Morgen, Pietro.«
»Ach, Sie sind es, Judith. Treten Sie näher. Sie werden erwartet.«
Der kleine Pietro mit dem Kahlkopf war ein bescheidener Mensch. Bevor er in das Vorzimmer Dino Lorenzos versetzt wurde, war er Kardinal Angelicos Privatsekretär gewesen. Das traurige Ende Angelicos hatte ihm sehr zugesetzt. Er hatte sich einigermaßen erholt, indem er sich in die Arbeit stürzte, wenn er nicht gerade Sudoku-Kästchen ausfüllte. Judith lächelte ihm zu und betrat das Büro, in dem der Direktor der Vatikanischen Sammlungen auf sie
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